Briefe in die chinesische Vergangenheit
aufgeklärten Zeitalter leben. Ein primitiver Mensch unserer Zeit auf die Reise geschickt, oder ein Mensch noch früherer Jahrhunderte, fühlte sich hier in dieser fernen Zukunft von lauter Dämonen umgeben, und alles erschiene ihm wie Zauberei. Aber – das wissen wir ja längst, selbst wenn wir es aus gewissen religiösen und politischen Gründen nicht laut sagen – es gibt weit weniger Dämonen, als das Volk denkt, und das meiste, was wie Zauberei wirkt, hat, wie gesagt, natürliche Ursachen. Mir scheint, die Leute, die im Lauf dieser tausend Jahre gelebt haben, haben diese natürlichen Ursachen systematisch erforscht und sich zunutze gemacht. Das wäre eine beachtliche Leistung, aufgrund derer man den Barbaren manches nachsehen müßte – auch den Lärm und den Schmutz? Ich weiß es noch nicht.
Daß sie dennoch und immer noch an Dämonen glauben – sozusagen an andere, tiefer hinter den Dingen zurückgezogene Dämonen –, ist mir auch klar. Selbst Herr Shi-shmi glaubt an sie. Er bringt ständig kleine Brandopfer dar. Die Brandopfer bestehen aus kleinen weißen Röllchen, die er in den Mund steckt und – erschrick nicht – anzündet … wie ein Feuerschlucker. Aber die Röllchen brennen nicht, sie glimmen nur, rauchen und stinken ziemlich. Trotz scharfer Beobachtung konnte ich keinen Sinn in diesen verglimmenden Röllchen erkennen. (»Tschai-ga-ga-lai« heißen die Röllchen – vielleicht auch der entsprechende Dämon.) Es muß also eine kultische Handlung sein. Herr Shi-shmi beweist übrigens eine halsbrecherische und schon geradezu asketische Fertigkeit im Darbringen dieser Brandopfer. Bis das Röllchen nahe an seinen Mund herangekommen ist, behält er es im Mund, erst wenn es so klein ist wie mein kleinstes Fingerglied, hört er damit auf. Dann scheint auch der Zauber, an den er ziemlich fest glaubt, verflogen zu sein, denn den Rest des Röllchens wirft er achtlos weg. Etwa alle halbe Stunden – habe ich beobachtet – bringt Herr Shi-shmi so ein Rauchopfer dar. Nie vergißt er es. Er führt stets ein Päckchen mit solchen Röllchen mit sich, und in der Wohnung bewahrt er einen größeren Vorrat auf.
Ich fragte ihn, warum er diese Brandopfer darbringe. Er wurde sichtlich verlegen. Offenbar schämt er sich seines Aberglaubens. Er lachte zwar, aber die Frage war ihm doch ziemlich peinlich. »Ich weiß es selber nicht«, sagte er, »ich kann es mir leider nicht abgewöhnen.« Er bot mir an, auch so ein Brandopfer darzubringen. Als aufgeklärter Mensch lehnte ich das natürlich ab. »Es ist auch besser«, sagte Herr Shi-shmi. Zu manchen Zeiten – genaue Abstände habe ich noch nicht beobachtet – bringt Herr Shi-shmi größere Rauchopfer dar. Die Röllchen sind dann dicker und länger, sind nicht weiß, sondern braun, glimmen bis zu einer halben Stunde und sind eher wohlriechend. Ob das ein stärkeres Brandopfer an den »Tschai-ga-ga-lai«-Dämon darstellt oder das Opfer an einen anderen, für mächtiger gehaltenen Dämon, habe ich noch nicht herausgefunden.
Herrn Shi-shmis Aberglaube scheint weit verbreitet zu sein, denn ich sehe oft Leute auf der Zentraltreppe und sogar auf der Straße, die selbst im Gehen solche Brandopfer darbringen. Mehrfach habe ich auch schon am Straßenrand – sehr kunstlos gefertigt – riesige Köpfe abgebildet gesehen: einer mit bräunlichem Gesicht, der drohend seine weißen Zähne bleckt und so ein Brandröllchen in der Hand oder im Mund hält, alles in sehr starken Farben und die Köpfe oder Figuren oft so groß, daß sie das ganze Bild bis zum Rand ausfüllen. Ich gehe sicher nicht fehl in der Annahme, daß es sich hierbei um die Andachtsstätten dieser Dämonen handelt. Anfangs habe ich vor jeder dieser Tafeln eine Drei-Achtel-Verbeugung gemacht, nicht, weil ich die Dämonen ernst nähme oder mich vor ihren drohenden Zähnen fürchtete, sondern weil ich als höflicher Mensch den fremden Kult etwas ehren wollte. Aber da ich nie einen der hiesigen Riesen vor so einer Dämonentafel eine Andacht verrichten habe sehen, lasse ich die Verbeugung jetzt wieder. Ich will ihre Dämonen nicht mehr ehren als die Leute hier selber.
Auf ein peinliches Kapitel muß ich doch auch noch zu sprechen kommen. Wir – Du, liebster Dji-gu, und ich – sind so gute alte Freunde, daß ich auch diese vielleicht an sich unziemlichen Dinge Dir gegenüber nicht zu verschweigen brauche. Du ahnst, wovon ich schreiben werde – aber letzten Endes dient meine Exkursion in diese ferne Zeit einem
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