Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Briefe in die chinesische Vergangenheit

Briefe in die chinesische Vergangenheit

Titel: Briefe in die chinesische Vergangenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herbert Rosendorfer
Vom Netzwerk:
Herr Shi-shmi ging ein paar Mal auf und ab, zeigte auf sich und sagte: »ich gehe«. Dann hieß er mich gehen und sagte: »du gehst«. Ich wiederholte jeweils die Wörter und sagte ihm unsere entsprechenden Begriffe, die er wiederholte. Dann faßte er mich am Arm, wir machten ein paar Schritte, und er sagte: »wir gehen« ; danach zeigte er aus dem Fenster – ich hielt mich fest und überwand mein Schwindelgefühl – und zeigte auf einen Passanten: »er geht« und so weiter. So tasteten wir uns, von ganz einfachen Dingen ausgehend, immer weiter vor. Ich brauche Dir das im einzelnen nicht zu schildern. Herr Shi-shmi zeigt auf verschiedene Gegenstände und benennt sie. Ich wiederhole die Wörter. Ich schreibe sie, so gut es geht, in unseren Schriftzeichen nieder und memoriere sie auch zwischen den Lektionen. Auch die hiesige Schrift bringt mir Herr Shi-shmi bei (ich ihm die unsere). Es ist alles sehr schwer, denn ich erkenne, daß das System der hiesigen Sprache ganz grundlegend verschieden ist von dem der unseren. Ich kann mir nicht vorstellen, daß diese Sprache von unserer abstammt. Wahrscheinlich haben doch fremdstämmige Völker im Lauf der tausend Jahre, die ich übersprungen habe, unser Reich überschwemmt und unsere Enkel verdrängt. Oder haben wir uns zwar nicht zeitlich, aber örtlich verrechnet? Wenn die Fortschritte in der Sprache so rasch weitergehen wie bisher, werde ich Herrn Shi-shmi bald danach fragen können. Einfachere abstrakte Begriffe beherrsche ich auch schon: »hell« und »dunkel«, »kalt« und »warm« und so fort. Es ist klar, daß der Sprachunterricht desto einfacher und gewinnbringender wird, je mehr er fortschreitet.
    Die gleichen Fortschritte macht Herr Shi-shmi, für den unsere Sprache natürlich auch ein völlig fremdes System bedeutet. Aber auch er gibt sich Mühe und ist sehr interessiert. Er hat auch mehr davon, denn während ich – zurückgekehrt – nichts werde mit der fremden Sprache anfangen können, wird er imstande sein, die Bücher zu lesen, die wir hinterlassen, sofern sie die Zeiten überdauern und eins davon durch Zufall in seine Hände gelangen sollte.
    Gestern fragte mich Herr Shi-shmi, ob ich wohl sehr alt sei. Ich bejahte. Er lächelte und sagte, daß er das aufgrund des Silberschiffchens angenommen habe, das ich ihm ganz am Anfang gegeben habe. Es sei tausend Jahre alt. Ich schrieb schon: er ahnt um die Sache.
    Zu »hell« und »dunkel« ist viel zu sagen. Auch hier ist es schwer, nicht an Zauberei zu glauben. Sie haben hier keine Kerzen. Wenn es dunkel wird, erhellen sich die Räume mittels mir vorerst noch gänzlich unverständlicher Vorgänge. Man drückt auf einen kleinen weißen Knopf, der irgendwo an der Wand eingelassen ist, und im gleichen Augenblick springt ein helles Licht an – nicht am Knopf, sondern irgendwo anders im Raum. Das Licht ist heller als hundert Kerzen. Nicht nur der kluge Herr Shi-shmi kann das und der Richter, alle können das: die Schergen im Gefängnis, die Person, die im Laden Öl verkauft, die anderen Leute, die hier im Haus wohnen. Sogar ich kann es schon. Nach einigem Sträuben habe ich es vor Tagen einmal versucht – es ging, und es war völlig ungefährlich. Also kann es keine Zauberei sein, abgesehen davon, daß es keine Zauberei gibt, weil für alle Erscheinungen natürliche Erklärungen zu finden sind, wie schon der ehrwürdige Chuang-tzu festgestellt hat. Das Licht geht von unterschiedlich geformten Lampions aus, die zum Teil aus Glas, zum Teil aus Papier, und auch aus Stoff oder sogar aus Holz sind. Selbst auf den Straßen sind solche Glaslampions auf hohen Stangen – zu Hunderten. Die Leute hier wissen daher überhaupt nicht, was wirkliche Dunkelheit ist, so wenig sie wissen, was Stille bedeutet. Die Lampions löscht man aus, indem man wieder auf den Knopf drückt. Es gibt auch kleine Lampions, bei denen der Knopf nicht in der Wand eingelassen ist, sondern in einer Schnur, die vom Lampion weghängt. So einer steht neben meinem Bett. Manchmal fühle ich mich schon wie ein Hiesiger: ich lege mich abends zum Schlafen, decke mich zu, dann ziehe ich den Knopf meines Bett-Lampions, und schon ist es dunkel – das heißt: eben leider nicht ganz dunkel. Die Straßen-Lampions, die die ganze Nacht brennen, leuchten durch das gewaltige Glasfenster, auch dann, wenn der Vorhang zugezogen ist. Anfangs konnte ich nur schlecht schlafen; aber nun habe ich mich daran gewöhnt.
    Es ist schon ein Glück, daß wir Gebildeten in einem

Weitere Kostenlose Bücher