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Briefe in die chinesische Vergangenheit

Briefe in die chinesische Vergangenheit

Titel: Briefe in die chinesische Vergangenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herbert Rosendorfer
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beschwert, entledigt. Was ich noch nicht weiß, ist: wohin fließt diese Quelle? Sie fließt nach unten, das ist klar. Ich habe alles genau untersucht … nach menschlichem Ermessen müßte das Wasser und alles das, was es mit sich spült, in die Wohnung unter uns fließen. Bald werde ich soweit sein, Herrn Shi-shmi danach zu fragen. So sind also die Gebäude dieser Leute hier von den erhabensten bis zu den niedrigsten Dingen seltsam und befremdlich. Wie immer: nur wenn man sich ihnen fügt, wird man in die Lage kommen, ihre Bedeutung oder ihr Geheimnis zu entschlüsseln.
    Der betreffenden Dame gehe ich aber immer noch nach Möglichkeit aus dem Weg. Zum Glück erkenne ich sie, kann sie von den anderen Leuten unterscheiden, denn sie ist so dick, daß sie die Arme flossenartig abstehend tragen muß. Sie heißt Kmei-was-wai.
    Es ist höchste Zeit, zum Kontaktpunkt zu gehen. Ich gehe heute das erste Mal allein dorthin. Ich habe nicht mehr die geringste Angst davor. So schließe ich also diesen Brief, und es grüßt Dich
    Dein Kao-tai

Achter Brief
    (Samstag, 3. August)
    Teurer, alter Freund Dji-gu.
    Drei Tage sind vergangen. Jeden Tag war ich am Kontaktpunkt – ich gehe jetzt immer alleine hin, es ist schon fast selbstverständlich –, einen Brief von Dir habe ich nicht vorgefunden. Du wirst mit Geschäften befaßt sein, möglicherweise quält Dich Deine leidige Gicht, dennoch bedaure ich es aufs äußerste, daß ich keine Nachrichten über den Stand der Dinge zu Hause habe. Ich hoffe, daß dieser kleine Vermerk Deine grenzenlose Güte nicht zu sehr bewegt, so daß Du mir womöglich einen Brief schreibst, ohne eigentlich dazu in der Laune zu sein. Aber wenn Du in die Laune kommen solltest zu schreiben, unterdrücke diese bitte nicht, sondern denke daran, daß Dein treuer Freund nach Nachrichten lechzt, vor allem wie es seiner kleinen, geliebten Shiao-shiao geht, und ob sie ihr süßes Näschen kräuselt – sofern man so sagen kann –, wenn Du ihr meine Grüße ausrichtest. Sie kann ja leider nicht schreiben, aber vielleicht drückt sie mir eines ihrer zarten Zehchen in die Tinte und dann aufs Papier – dann hätte ich auch einen Gruß von ihr.
    Mir, liebster Freund, geht es gut. Ich bewege mich, wie Du schon daran siehst, daß ich von Herrn Shi-shmis Wohnung allein zum Kontaktpunkt gehe, völlig frei in dieser Welt, die mir zunehmend eher töricht als fremd erscheint. Gelegentlich unternehme ich sogar einen Spaziergang. So bin ich neulich den »Kanal der blauen Glocken« entlanggegangen bis zum Palast des erhabenen, wenngleich verewigten Wang von Min-chen und auf der anderen Seite des Kanals zurück. Es war ein herrlicher, warmer Sommertag. Unzählige Leute waren unterwegs. Zum Teil schoben sie ihre – oft sehr lauten – Kinder in kleinen Karren vor sich her. Auf dem Kanal schwammen viele Wasservögel – darunter einige mir bekannte, zum Beispiel weiße Schwäne und Purpurenten. Sie kamen mir vor wie ein Gruß aus meiner fernen Zeit-Heimat.
    Mit dem erhabenen, wenngleich verewigten Wang von Min-chen scheint es Schwierigkeiten gegeben zu haben. Ganz habe ich Herrn Shi-shmis diesbezügliche Erklärung nicht verstanden. Der letzte Wang, der in dem Palast residierte, hieß Lu-wing und war der dritte dieses Namens. Merkwürdigerweise hat – oder hatte – man nicht mehr unsere Übung, für jeden Herrscher einen eigenen Namen zu erfinden. Zwei andere Wang hießen Ma-ksi-mai-lan. Der dritte Lu-wing scheint, wenn ich Herrn Shi-shmi richtig verstanden habe, verjagt worden zu sein. Von wem? Das ist mir unklar. Der dritte und letzte Lu-wing (Herr Shi-shmi zeigte mir ein Bild) war unglaublich dick. Herr Shi-shmi erzählte mir eine Anekdote: der Wang Lu-wing sei so dick gewesen, daß er allein nicht auf ein Pferd habe steigen können. Es habe hinter dem Palast ein verschwiegenes Gestell gegeben, eine Art Seilwinde, mit deren Hilfe man den dicken Wang auf sein Pferd heben konnte. Einmal hätte sich, während der Wang, an seinem Seil hängend, in den Sattel herniederschwebte, das Pferd gedreht, so daß der Wang verkehrt herum auf das Pferd zu sitzen gekommen sei. Der Wang habe zwar gejammert, aber die verschlafenen (oder bösartigen) Diener hätten es nicht gemerkt, und so sei der Wang oder vielmehr: das Pferd mit dem hilflosen, dicken Wang verkehrt herum im Sattel durch das Tor getrabt, und alle Welt hätte gelacht.
    Ob das dann der Grund für die Absetzung war? Ob es einen neuen Wang gibt, ob eine neue Dynastie die Dynastie

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