Briefe in die chinesische Vergangenheit
sagt Herr Shi-shmi, sei aus politischen Gründen unmöglich, abgesehen davon, daß die Reise sehr lang und außerordentlich kostspielig ist. Aber dieser Punkt wäre nicht entscheidend. Im Vertrauen gesagt: Herr Shi-shmi verfügt über keine Reichtümer, und sein Einkommen – er bezieht es von einer Akademie, die nur entfernt unserer kaiserlichen Dichterakademie »Neunundzwanzig moosbewachsene Felswände« ähnelt – erreicht im Jahre knapp den Erlös, den ich für fünf meiner Silberschiffchen erzielen kann. Herr Shi-shmi lebt nicht schlecht, aber eine Reise nach Chi-na könnte er sich nicht ohne weiteres leisten. Mit aller gebotenen Rücksicht, um ihm nicht das Gefühl zu geben, ich hielte mich wegen meiner fünfzig Silberschiffchen für bedeutender, als er ist – wobei ich, unter uns gesagt, in unserer Rangordnung ziemlich weit über ihm stünde –, habe ich ihn gebeten auszurechnen, wieviel Geld in hiesiger Währung wir für die restlichen 48 Silberschiffchen erzielen könnten. Es ergab einen horrenden Betrag, der leicht ausreichte, die Kosten einer Reise nach Chi-na zu decken, und ich könnte sogar Herrn Shi-shmi dazu einladen und seine Kosten mit übernehmen. Nach gebotener Höflichkeits-Ziererei sagte Herr Shi-shmi endlich, daß er unter den gegebenen Umständen bereit sei, mein Angebot anzunehmen, da er sich ja andrerseits damit revanchieren könne, daß er mich weiter in seiner Wohnung beherberge.
Vorsichtig tastete ich seine Reaktion auf einen weiteren Vorschlag ab: ob man auch Frau Pao-leng einladen könne, mitzufahren. (Das Geld reicht auch dafür ohne weiteres.) Herr Shi-shmi verzog keine Miene. Er sagte, man müsse dazu die Dame Pao-leng selber fragen. Aber was er wirklich dachte, habe ich natürlich an seinem Gesicht nicht ablesen können.
Das alles jedoch sind untergeordnete Probleme, denn das schwierigste ist die politische Situation und die Tatsache, daß man von hier aus nicht ohne weiteres in das Land der Mitte reisen kann, wenn man will.
Es wird für Dich sehr schwierig sein, das zu verstehen. Viele Abende habe ich Herrn Shi-shmi zugehört. Er ist ja Historiker (habe ich Dir das schon geschrieben? Es sind inzwischen so viele und so lange Briefe – an Seiten wohl zehnmal soviel wie Du mir geschrieben hast, Geliebtester –, daß ich nicht mehr im einzelnen weiß, was ich Dir schon berichtet habe und was nicht), Herr Shi-shmi ist Historiker und hat mir das alles erklärt, wie es zu dieser ungünstigen politischen Situation gekommen ist. Ich werde versuchen, einigermaßen bündig zusammenzufassen, was Herr Shi-shmi – sehr kontinuierlich und aus einem vollen Wissen schöpfend – an den vielen Abenden erzählt hat.
Es ist wieder einmal so, daß ich kaum weiß, wo ich anfangen soll. Ich beginne mit der Zeitrechnung der Großnasen. Vor etwa tausend Jahren unserer Zeit (und damit vor knapp zweitausend Jahren der hiesigen), also etwa gegen Ende der Dynastie Frühere Han und – wenn ich richtig rechne – kurz vor der Regierungszeit des Usurpators Wang Mang, wurde der Prophet geboren, an den die Großnasen glauben. Mit der Geburt dieses Propheten beginnt ihre Zeitrechnung. Auch über den Propheten – der in gewisser Weise unserem Erhabenen auf dem Aprikosenhügel ähnlich ist – hat mir Herr Shi-shmi viel erzählt, aber das will ich dir später in einem eigenen Brief mitteilen.
Etwa um die Zeit der Geburt dieses Propheten – den die Großnasen zumeist als Gott verehren – regierte in einer großen Stadt weit südlich von Min-chen, jenseits der Berge, ein Kaiser, den Herr Shi-shmi als Gründer des fast bis auf seine Zeit geltenden Staatssystems betrachtet und hoch schätzt. Der Kaiser hieß Hao-go-shu und die Stadt hieß Lom. Die Stadt gibt es immer noch und sie heißt immer noch Lom, bei ihren eigentlichen Bewohnern aber Lo-ma. Ein hohes Gebirge – im Grunde genommen eine dreifache Kette von Gebirgen – trennt das Land Ba Yan von dem Land, in dem die Stadt Lom liegt, und jenes Land liegt auch am Meer. Dort ist es wärmer als hier, und es regnet nicht so oft. (Die Wetterbesserung an jenem Tag, als wir Frau Pao-leng besuchten, die ihr auch gestattete, das unvergleichliche bunte Wellenkleid zu tragen, durch das ihr nicht minder unvergleichlicher Körper zu sehen war, war nur vorübergehend. Herr Shi-shmi nennt solche Schönwettereinbrüche Tsi-wi-shen-cho. Seit vier Tagen regnet es schon wieder. Der Wind biegt die Äste der Kastanien vor dem Haus. Die Vögel schweigen. Shai-we-ta.) Ich
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