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Briefe in die chinesische Vergangenheit

Briefe in die chinesische Vergangenheit

Titel: Briefe in die chinesische Vergangenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herbert Rosendorfer
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die Angehörigen des Volkes der Mitte, sind gewiß auch keine Tugendstandbilder, und wenn man so liest, was die alten Kaiser und Heerführer mit den jenseits der Großen Mauer wohnenden Stämmen gemacht haben, überläuft einen auch die Gänsehaut. Aber das alles ist nichts im Vergleich zum Verhalten der Großnasen den Urbewohnern von Am-mei-ka gegenüber. Wenn es eine Gerechtigkeit des Himmels gibt, kann das den Großnasen kein Glück bringen; und – scheint mir – es hat ihnen auch kein Glück gebracht.
    Nachdem die Einwohner von Am-mei-ka beseitigt waren, siedelten dort Ableger der hiesigen Großnasen. Das Land oder die Luft dort scheint ungeheuer fruchttreibend zu sein, denn die Großnasen vermehrten sich in Am-mei-ka wie die Kaninchen, und heute gibt es, sagt Herr Shi-shmi, heute, nach nur fünfhundert Jahren, in Am-mei-ka insgesamt mehr Großnasen als hier in ihren Stammländern. Herr Shi-shmi hatte schon mehrfach Gelegenheit, dorthin nach Am-mei-ka zu fahren und sich die Sache anzusehen. Er sagt: durch die größere Weite des Landes dort und die nahezu unbegrenzten Möglichkeiten zur Entfaltung hätten sich die typisch großnasischen Charakterzüge in Am-mei-ka besonders stark herausentwickelt, namentlich die Sucht, von sich selber fortzuschreiten. Wenn ich schon von der Größe, dem Lärm und dem Gestank in Min-chen erschrecke, so sei das noch gar nichts gegen Größe, Lärm und Gestank der Städte in Am-mei-ka. Es gäbe dort Häuser, die seien so hoch, daß sie mit Recht »Ich kratze die Wolke« heißen. Solche Häuser stünden in unvorstellbar beängstigenden Knäueln zusammengedrängt. In den Schluchten dazwischen tose der Lärm Tag und Nacht. Das Leben – sofern man das Leben nennen könne – brodle sozusagen Schicht auf Schicht aufeinander, und wer verdammt sei, unten zu leben, sähe den Himmel nie, und wer oben lebe, sähe auch nur einen dunstigen Schatten des Himmels. Solche versteinerten Riesenschlangen-Knäuel von Städten gäbe es unzählige. Sie seien heute den Regierenden schon aus der Hand geglitten und es herrsche nur noch Brutalität und Terror. Ich solle froh sein, sagt Herr Shi-shmi, daß ich nur in Min-chen auf diese Welt gekommen sei und nicht in einer dieser Städte in Am-mei-ka.
    Selbstverständlich ist die Entwicklung dieses Reiches jenseits des Meeres nicht ohne Einfluß auf die hiesige Geschichte geblieben. Lang, sagt Herr Shi-shmi, habe man hier in den engen Zimmern der Konkursmasse des alten Reiches Lom das Land Am-mei-ka nur als koloniales Anhängsel betrachtet und dessen aufstrebende Macht nicht ernst genommen. Vor etwa siebzig Jahren aber sei hier in der »Alten Welt« (wie Herr Shi-shmi die Heimat der Großnasen nennt) wieder einmal ein Krieg entstanden, den unter anderem jener Kaiser Wi-li mit dem hölzernen Kopf vom Zaun gebrochen habe. Worum es denn in jenem Krieg ging? fragte ich. Das wisse eigentlich kein Mensch, sowenig, wie man wisse, warum Kinder oder Weiber untereinander stritten. Um nichts, eigentlich. Aber Tausende von Tausenden von Tausenden Toten habe es gegeben. Die einzelnen Staaten und Königreiche hätten sich darin überboten, Vernichtungsmaschinen zu erfinden, die immer grausamer wurden. Es habe dann solche Maschinen gegeben, die in der Lage gewesen seien, hundert oder gar tausend gegnerische Soldaten auf einen Schlag zu Pulver zu verbrennen. Der Krieg habe vier Jahre gedauert, und danach habe kaum noch einer der Großnasen, sofern er den Krieg überhaupt überlebt hat, mehr als ein Bein, einen Arm und ein Auge besessen. Danach sei ein zweiter Krieg gekommen, den ein Pseudokaiser angezettelt habe, der ein solches Scheusal gewesen sei, daß – sagt Herr Shi-shmi – er ihm das Schlimmste antun wolle, was einem Historiker zur Verfügung steht: er weigere sich, sich seinen Namen zu merken. Diesen zweiten Krieg hat Herr Shi-shmi als Kind noch miterlebt. Er hat viele grausame Einzelheiten erzählt, die ich hier nicht berichten will. Du kennst Kriege, lieber Dji-gu, ich kenne sie. Sie sind in den tausend Jahren nicht anders geworden, und ihr Grund ist hier kein anderer als bei uns: das Überhandnehmen der Dummen oder das Überhandnehmen der Dummheit bei den Mächtigen.
    Die eine Partei in diesen beiden Kriegen hat, als sie in die Klemme kam und als das Kriegsglück drohte, sich zu ihren Ungunsten zu wenden, den Obersten Fürsten von Am-mei-ka zu Hilfe gerufen. Es ist immer dasselbe: sofort sind die Leute von Am-mei-ka gekommen (mit Schiffen über das große

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