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Briefe in die chinesische Vergangenheit

Briefe in die chinesische Vergangenheit

Titel: Briefe in die chinesische Vergangenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herbert Rosendorfer
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fragte Herrn Shi-shmi, warum dann um alles in der Welt die Großnasen (ich gebrauche diesen Ausdruck Herrn Shi-shmi gegenüber natürlich nicht) hier in diesen Landstrichen des Shai-we-tas siedeln und nicht dort im Land der Stadt Lom?
    Ja, das sei einmal das Problem gewesen, das das Reich des Kaisers Hao-go-shu von Lom oder vielmehr von dessen Nachfolgern erschüttert habe. Aber dazu mußte er – und muß auch ich jetzt – weiter ausholen. Die Bedeutung des Kaisers Hao-go-shu liege darin, daß er das erste dauerhafte Reich geschaffen habe. Vor ihm habe es zwar auch verschiedene größere Reiche gegeben, aber die seien alle nur von begrenzter Ausdehnung oder von kurzer Dauer gewesen. Es war wohl insgesamt so, wie die Zustände bei uns vor dem Kaiser Shi-huang-ti oder noch früher waren: es gab eine Reihe von Staatswesen, mehr oder weniger bedeutend, die, alle um den Kern einer großen Stadt ausgerichtet, miteinander konkurrierten, gelegentlich harmonierten, aber meist um die Vormacht rivalisierten. Die Stadt Lom, ursprünglich unbedeutend, stieg dank der Tüchtigkeit und sittlichen Kraft ihrer Bewohner langsam zu beherrschender Stellung auf, verleibte sich nach und nach erst die benachbarten und dann die ferner gelegenen Städte ein, und als endlich Hao-go-shu an die Macht kam, vereinigte er das ganze damalige Land der Großnasen zu einem Reich, dem Reich von Lom. Die Bedeutung des Kaisers Hao-go-shu – die Erforschung von dessen Leben und Wirken scheint mir das Spezialgebiet von Herrn Shi-shmi zu sein – lag nicht so sehr in seiner Eigenschaft als Feldherr, Held und Heerführer, sondern als Friedensfürst. Persönlich sei er eher ein nüchterner und trockener Mensch gewesen, weshalb sich die Historiker nicht so gern ihm zuwenden, sagt Herr Shi-shmi, denn die Ordnungsstiftung sei weniger sensationell als die Taten von Leuten, die alles durcheinanderbringen. (Genau wie bei uns.) Kaiser Hao-go-shu also hat das Reich geeint, die Verwaltung geordnet, gerechte Gesetze erlassen, das Geld- und Handelswesen geregelt, die Räuber und Piraten ausgerottet – ganz ähnlich unserem Shi-huang-ti – und eine befestigte Grenze gegen die nördlichen Barbaren errichtet – auch wie Shi-huang-ti.
    Das alles war, wie gesagt, um die Zeit, als bei uns der Usurpator Wang Mang die Dynastie Frühere Han stürzte. So bestanden also damals und danach noch lange Zeit zwei Reiche, das unsere, das Erhabene Reich der Mitte, und das Reich der Großnasen von Lom, und keines hatte eine Ahnung von der Existenz des anderen und sollte noch für viele Jahrhunderte keine Ahnung haben. Was aber, fragte ich, lag zwischen den beiden Reichen? Herr Shi-shmi meinte: dazwischen lagen Berge und Meere, damals wenig besiedelt, unwegsame Gelände, bevölkert von wenig gebildeten Stämmen, eigentlich: nichts.
    Nun gut; aber wie ging es weiter? Der Kaiser Hao-go-shu begründete so etwas wie eine Dynastie, die, sagt Herr Shi-shmi, wenn man den Begriff Dynastie nicht zu eng versteht, bis fast in seine, Herrn Shi-shmis Zeit, reicht. Das Kennzeichen, das Staatssymbol quasi dieses von Hao-go-shu gegründeten Reiches sei einerseits der Adler gewesen (der später als Adler mit zwei Köpfen dargestellt wurde), andrerseits die festgefügte Ansicht, daß die Macht des Kaisers diesem von der Gnade des Himmels verliehen worden sei. Das sei – auf den Kern zurückgeführt – die Säule der Macht gewesen. Noch Herrn Shi-shmis Vater ist unter der Herrschaft des letzten Kaisers aus dieser Tradition geboren, Herr Shi-shmi selber nicht mehr. Übrigens spricht Herr Shi-shmi, wofür ich wenig Verständnis habe, von diesem letzten Kaiser sehr ehrfurchtslos. Der Kaiser hieß Wi-li, und Herr Shi-shmi nennt ihn: den Kaiser mit dem Kopf aus Holz. Seiner Dummheit sei es, sagt Herr Shi-shmi, letzten Endes zuzuschreiben, daß das Reich untergegangen sei – aber, fügte er hinzu, gerechterweise müsse man sagen, daß die Zeit für den Untergang des Reiches einfach reif gewesen sei. Auch ein weiser Herrscher hätte den Untergang nicht mehr als vielleicht um eine Generation hinausschieben können.
    Aber zurück zu dem eigentlichen und ursprünglichen Reich des Kaisers Hao-go-shu, das in der Form, wie es gegründet wurde, an die fünfhundert Jahre bestand, obwohl sich bereits nach dreihundert Jahren – also etwa in der Zeit, als bei uns die Dynastie Östliche Chin regierte – zwei Kaiser in die Macht teilten, ein östlicher und ein westlicher. Jeder nahm für sich in Anspruch, der wahre

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