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Briefe in die chinesische Vergangenheit

Briefe in die chinesische Vergangenheit

Titel: Briefe in die chinesische Vergangenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herbert Rosendorfer
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ich sie Dir nach meiner Rückkehr in der Geborgenheit unserer Zeit-Heimat an ein paar Sommerabenden wiedergeben. Für heute begnüge Dich bitte mit der Mitteilung, daß das so ist.
    Wozu taugt es aber nun, ein Holz (oder einen Stein oder einen Kübel Wasser) so lange zu teilen, bis es knallt? Nach unserer, nach Deiner, nach meiner Meinung zu gar nichts. Nicht so in den Augen der Großnasen. Sie sind sofort auf die Idee gekommen, daß man mit Hilfe des Knalls, der entsteht, wenn man das Zehntausendstel eines Läuseohrs teilt, eine Bombe konstruieren kann, die von unvorstellbarer Fürchterlichkeit ist. Und solche Bomben sind geworfen worden, wahrscheinlich letzten Endes aus Neugier, was da passiert. Die Neugier hat Tausende von Menschen auf einen Schlag das Leben gekostet, zwei Städte wurden ausradiert. Es gab nicht einmal Leichen, nur gestaltlose Aschenberge. Auch davon hat mir Herr Shi-shmi Bilder gezeigt.
    Nun möchte man meinen, daß die Großnasen von weiterer Neugier in dieser Richtung abgeschreckt worden wären – weit gefehlt. Sie haben die Teilungs- oder Spaltungsbombe noch verfeinert. Heute könnten sie ganze Länder mit einem Schlag auslöschen und die Meere aufs Land schütten. Nur ausprobiert haben sie es nicht – noch nicht.
    Mit solchen Knüppeln in den Händen also fletschen sich die Generäle der beiden mächtigen Reiche zu, solche Zähne zeigen sie sich. Da die Vernunft noch nie die erste Tugend war, die einem einfällt, wenn man ans Militär denkt, kannst Du ermessen, auf welchem dünnen Seil über einem Abgrund die hiesige Welt balanciert.
    Ich hieb – ganz unhöflich, aber es war ja nicht gegen ihn gerichtet – mit der flachen Hand auf den Tisch und sagte zu Herrn Shi-shmi: ja ist es denn nicht möglich, den Generälen diese schrecklichen Waffen zu entwinden? Stehen denn nicht die Denkenden auf und schreien: jetzt ist aber Schluß … Ja, sagte Herr Shi-shmi, nein – das ginge nur, wenn beide, die Generäle von Am-mei-ka und die Generäle der Lu-sen die Knüppel gleichzeitig wegwürfen. Aber jeder sagt: du zuerst. Und jeder sagt: haha, und sobald ich ihn weggeworfen habe, haust du mir, statt wie vereinbart deinen Knüppel wegzuwerfen, den Schädel ein. Nein – wirf du zuerst den Knüppel weg – haha, sagt der andere …
    Seit Jahren, sagt Herr Shi-shmi, tagt eine Konferenz von Ministern und Generälen beider Länder, die diesen Dialog ununterbrochen fortspinnen. Aber immerhin, fügte Herr Shi-shmi hinzu, schlagen sie nicht zu, solange sie sich unterhalten.
    Du fragst natürlich jetzt schon längst: und das Ewige, machtvolle Reich der Mitte? Wo bleibt das in dem politischen Weltsystem von tausend Jahren nach uns? Nur Geduld. Um es Dir, teurer Dji-gu, verständlich zu machen, muß ich wiederum weit ausholen.
    Daß sich die ganze vorhandene Gewalt zwei Reiche teilen, die sich – solange die Stärke auf Messers Schneide steht – scheinbar friedlich gegenüberstehen, aber nur darauf warten, daß sich ein Vorteil zu den jeweils eigenen Gunsten ergibt, um dann sofort über den Rivalen herzufallen, kennen wir aus unserer eigenen Geschichte. Du, der Du in der Wissenschaft von der Tiefe der Jahre besser bewandert bist als ich, könntest wahrscheinlich fünf solcher Epochen als Beispiele heranziehen.
    Was neu hier ist: nicht zwei verschiedene um den Vorrang kämpfende Dynastien, nicht zwei verschiedene Religionen verkörpern sich in den Reichen Am-mei-ka und Lu-sen, sondern zwei verschiedene Anschauungen von der irdischen Seligkeit der Bürger, was – soweit ich es beurteilen kann – in den Augen der Regierenden unmittelbar damit zusammenhängt, auf welche Weise die Staatskassen am besten zu füllen sind. Die eine – die Staatstheorie des Reiches Am-mei-ka – besagt, daß man jeden tun und lassen soll, was er will, selbst den Dümmsten. Die Geschäftstüchtigen werden sich durchsetzen, so wie das stärkste Ferkel den besten Platz an der Zitze erkämpft. Die Regierung beobachtet die ganze Sache, wartet, bis sich die Stärksten hervorgetan haben, und lobt und ehrt sodann diese. Diese Tüchtigen fühlen sich erhoben und vom Staat geschützt und zahlen zwar unwillig, aber doch in der Einsicht, daß sie dem allen ihre Stellung zu verdanken haben, die Steuern.
    Als mir Herr Shi-shmi diese Staatstheorie erklärte, wandte ich ein: wie kann es dann anders sein, als daß dieses Reich ein Staat von Krämern und Pfeffersäcken wird? Geben da nicht die Kaufleute den Ton an? So ist es, sagte Herr Shi-shmi.

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