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Briefe in die chinesische Vergangenheit

Briefe in die chinesische Vergangenheit

Titel: Briefe in die chinesische Vergangenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herbert Rosendorfer
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Meer), haben mit frischen Truppen den Krieg entschieden – und sind geblieben. Das kennen wir alles auch …
    Das heißt – sagt Herr Shi-shmi – geblieben in dem Sinn, daß die seinerzeitigen Kolonisten in die »Alte Welt« zurückgewandert seien, seien sie nicht. Sie hätten nur ihre Abgesandten, Bevollmächtigten und Kaufleute zurückgelassen, hätten ihrerseits die »Alte Welt« kolonisiert, und jetzt – sozusagen ehe man’s sich versehen habe – sei die »Alte Welt« nichts mehr als ein Anhängsel des mächtigen Am-mei-ka. Das sei – sagt Herr Shi-shmi – jedem Denkenden in Ba Yan und jedem anderen Land ohne weiteres klar … nur gebe man die Abhängigkeit ungern zu, und man räche sich für die Abhängigkeit, indem man sich in der »Alten Welt« für etwas Besseres dünke und viel auf die Tradition halte.
    Es ist nicht anders als das Verhalten eines verarmten Adelsgeschlechtes einem Neureichen gegenüber, dem es seine Töchter verheiraten muß, um nicht zu verhungern. Ins Gesicht hinein wird mit dem Neureichen geredet wie mit seinesgleichen, aber wenn man unter sich ist, bricht der alte Dünkel hervor. Und der Neureiche ist kindisch genug, sich vom verstaubten Ruhm, der nichts anderes mehr ist als eine hohle Nuß, blenden zu lassen.
    Aber das alles sei, sagt Herr Shi-shmi, nur die eine Seite. Es gibt noch eine andere, denn die Welt ist geteilt: die Kugelerde ist wie ein Apfel mitten auseinandergeschnitten, nur nicht so klar wie bei einem Apfel. Das andere Reich, das östlich der »Alten Welt« liegt – durch kein Meer getrennt –, ist zwar ziemlich alt, älter als Am-mei-ka, aber auch erst in den letzten beiden Generationen zur Macht gekommen. Das sei ein äußerst komplizierter Vorgang gewesen, und im westlichen Reich Am-mei-ka schlage man sich fortwährend ans Hirn, wie man Fehler über Fehler machen konnte und den Aufstieg des Reiches der Lu-sen im Osten nicht unterbunden habe. Vor dreißig Jahren wäre es noch möglich gewesen, heute nicht mehr. Es sei also so: die beiden Reiche, das von Am-mei-ka und das der Lu-sen stehen sich, bis an die Zähne bewaffnet, feindlich gegenüber. Lieber heute als morgen würde jedes über das andere herfallen, aber keiner wagt es, weil keiner die wirkliche Stärke des anderen genau abzuschätzen vermag. So stehen die beiden Riesen da, fletschen die Zähne, treten einander ab und zu – nicht zu fest – gegen das Schienbein und sind vor allem damit beschäftigt, sich ja nicht umzudrehen, weil sonst der andere die Gelegenheit ergreifen würde, dem Gegner eins über den Schädel zu ziehen. Dabei wäre eins über den Schädel ziehen harmlos. Die Großnasen haben weit gefährlichere Waffen. Pfeil und Bogen sind durch weithin reichende Feuer-Peitschen ersetzt, die in der Lage sind, selbst entfernte Leute mit Bleiklümpchen zu durchlöchern. Die Feuerpeitschen – zum Teil dann auf gepanzerte A-tao-Wagen montiert – sind zu Elefantengröße angewachsen, die mit einem einzigen Schlag ganze Häuserzeilen auf große Entfernung hin zermalmen können. Ich habe dies alles – dem Himmel sei Dank – nicht erlebt und nicht gesehen, aber Herr Shi-shmi hat mir Abbildungen in einem illustrierten Buch aus dem letzten Krieg gezeigt und die schaurigen Einzelheiten erklärt. Dabei sind die Waffen, die in jenem Krieg verwendet wurden, heute nur noch als Spielzeug zu gebrauchen, sozusagen.
    Aber gegen Ende dieses letzten Krieges, das ist von hier aus gesehen etwa vierzig Jahre her, ist man auf etwas ganz Scheußliches draufgekommen. Wieder einmal muß ich, um Dir dies zu erklären, weiter ausholen. Denke Dir: man teilt einen dünnen Holzstab. Dann wirft man die eine Hälfte fort. So hat man einen Holzstab halb so lang wie ursprünglich. Nun teilt man den halben Holzstab und erhält, logischerweise, einen Holzstab von einem Viertel der ursprünglichen Länge. Dann teilt man ihn wieder und nochmals und abermals und so fort, und der Holzstab wird immer kleiner und kleiner. In Gedanken kannst Du das unendlich fortspinnen, aber in Wirklichkeit kommt einmal ein Punkt, da kann man den inzwischen auf das Zehntausendstel eines Läuseohrs geschrumpften Holzstab nur noch einmal teilen – und dabei gibt es einen fürchterlichen Knall. Warum? Da gibt es Theorien, die die Großnasen in dicken Büchern beschrieben haben. Herr Shi-shmi, der kein Fachmann ist, hat mir das, was ich Dir nur verkürzt und sehr stark vereinfacht wiedergebe, zu erklären versucht. Sofern ich die Erklärungen behalte, kann

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