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Briefe in die chinesische Vergangenheit

Briefe in die chinesische Vergangenheit

Titel: Briefe in die chinesische Vergangenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herbert Rosendorfer
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wird, nämlich durch Köpfen des Vorgängers, aber dennoch sind sich das Reich der Mitte und die verderblichen Lu-sen feindlich gesinnt, und das sähe das Reich Am-mei-ka naturgemäß mit äußerstem Wohlwollen, um nicht zu sagen Schadenfreude.
    So ungefähr, etwas vergröbert, aber nichtsdestoweniger wahr, sagt Herr Shi-shmi, stellt sich das Bild der Welt heute dar.
    Das Reich der Mitte, so zwischen die feindlichen Blöcke Am-mei-ka und Lu-sen gezwängt, müsse darauf achten (zu seiner eigenen Sicherheit), daß niemand erfährt, was dort wirklich getan, gedacht und geplant wird. Ein sehr vernünftiger Standpunkt. Darum lassen die heute herrschenden Mandarine – unsere wirklichen Enkel, keine Großnasen – niemanden ins Land, der ihnen nicht ganz geheuer ist, und ich, das müsse ich ja wohl einräumen, wäre ihnen alles andere als geheuer. So ist es also ausgeschlossen, daß ich ins heutige Reich der Mitte fahre. Es würde mich auch schmerzen, sagte Herr Shi-shmi, zu sehen, wie dort das Andenken des großen K’ung-fu-tzu mit Füßen getreten wird. Wird denn wirklich die Lehre des Weisen vom Aprikosenhügel heute dort verachtet?
    Ja, sagte Herr Shi-shmi. Ich hüllte mein Gesicht in meinen Ärmel. Unsere Nachfahren sind zwar keine Großnasen geworden, aber klüger auch nicht.
    So bleibe ich also hier; hier in Min-chen. Es hat den Vorteil, daß ich in der Nähe von Frau Pao-leng bin. Ich habe bei Herrn Shi-shmi vorsichtig vorgefühlt, wie er von einem weiteren Besuch bei der Dame denkt. Er hat ausweichend geantwortet. Ich will nicht stärker in ihn dringen, ihn nicht drängen. Es wird sich ergeben, wenn es sein soll. Wenn es eine Möglichkeit gäbe, ohne Herrn Shi-shmi zu kränken, würde ich ganz gern hier ausziehen und mir irgendwo in dieser Stadt eine eigene Wohnung mieten. Ich beherrsche die Sprache der Leute von Min-chen inzwischen so weit und bin so mit ihren Sitten vertraut, daß ich gut auf eigenen Füßen stehen könnte, und ich meine, daß ich das, was ich bei und von Herrn Shi-shmi lernen konnte – ich bin ihm ewig dankbar dafür –, gelernt habe und daß ich Neues nur erfahre, wenn ich die Umgebung wechsle.
    Aber auch das wird sich ergeben, wenn es sein soll. Der Brief ist lang geworden. Es ist aber auch ein wichtiger Brief.
    Es grüßt Dich
    Dein Kao-tai
    Mandarin und Präfekt der kaiserlichen Dichtergilde »Neunundzwanzig moosbewachsene Felswände«

Dreizehnter Brief
    (Dienstag, 3. September)
    Liebster Dji-gu.
    Wieder hat der Mond gewechselt. Es beginnt Herbst zu werden. Wenn ich am Morgen am Kanal entlang spaziere (dem Kanal, den ich anfangs für den »Kanal der blauen Glocken« hielt), ziehen leichte Schleier von Nebel auf. Manchmal ist es still, das Wasser plätschert, eine Mandarinente schwimmt im Kreis, und ich meine für Augenblicke, ich sei daheim.
    Herr Shi-shmi hat mir eine wenig erfreuliche Bitte unterbreitet. Lange Gespräche sind vorausgegangen, die sich weit von den Gegenständen entfernten, die wir bisher besprochen hatten und die sich im Bereiche grundsätzlicher und philosophischer Natur erhoben. Herr Shi-shmi ist in großer Sorge um die Welt, um seine Welt. Um unsere Welt brauchen wir nicht Angst zu haben. Meine Reise hat gezeigt, da ich ja sonst über das Ende der Zeit hinausgeschossen wäre (was der Himmel gütigst verhindert hat; das war übrigens die einzige Sorge, die ich während der kurzen Fahrt hatte), daß wir eine Zukunft von noch mindestens tausend Jahren vor uns haben, wenngleich sie ein Abgrund ist. Herr Shi-shmi befürchtet, daß seiner Welt keine tausend Jahre mehr bevorstehen. Er zweifelt an hundert Jahren. Manchmal, sagt er, neige er zu der Ansicht, daß seine Welt keine zwanzig Jahre mehr bestehen werde.
    Ich meinerseits zweifele nicht daran, nach allem, was ich sehe, daß Herrn Shi-shmis Sorgen nicht von der Hand zu weisen sind und nicht einer Überfunktion schwarzen Saftes in seinem Körper entspringen. Herrn Shi-shmis Sorgen sind berechtigt. Die Großnasen sind dabei, ihre Welt – die leider auch die Welt unserer Enkel ist – zugrunde zu richten. Kein Mensch kann annehmen, daß das die Großnasen absichtlich tun. Sie treiben einem Abgrund zu und sehen es nicht. Die Jungen wollen es nicht wahrhaben und verschließen krampfhaft die Augen. Unter den Alten macht sich die Haltung breit zu hoffen, daß sie das schreckliche Ende nicht mehr erleben werden. Zurückzuführen ist die ganze Misere darauf, daß die Regierenden zu selbstsüchtig sind und im Grunde genommen

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