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Briefe in die chinesische Vergangenheit

Briefe in die chinesische Vergangenheit

Titel: Briefe in die chinesische Vergangenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herbert Rosendorfer
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sich nie einig sind. Sie haben naturgemäß verschiedene Interessen und daher verschiedene Kandidaten. Das leuchtet mir, sagte ich, ein, es ist so wie bei uns: die Kohlenhändler ziehen es vor, daß die Leute nur wenig Kleider und dünne tragen, damit der Kohleabsatz floriert, während die Wollhändler den Kohlenhändlern schlechte Geschäfte wünschen, damit die Leute dicke Kleider tragen …
    So etwa ist es, sagte Herr Shi-shmi, und daher suchen die Boten im Land zu schreien, so laut es geht, und die anderen Boten zu überschreien, und noch größere Bilder ihrer Kandidaten an die Wände zu kleben, möglichst noch über die Bilder der Gegner, grob gesprochen …
    Und wer die größten Bilder anklebt, fragte ich, dessen Kandidat wird gewählt? Abgesehen von gewissen Unwägbarkeiten, sagte Herr Shi-shmi, die immer noch eintreten können, könnte der Vorgang so dargestellt werden.
    Kann denn bei diesem System, fragte ich, ein vernünftiger Kandidat bis zum Amt des Ober-Mandarins durchdringen? In Ausnahmefällen ja, sagte Herr Shi-shmi, aber in der Regel bringt dieses System – das sie (übersetze ich:) Volksherrschaft nennen – mit sich, daß nur Kandidaten erfolgreich sind, die zwei Voraussetzungen mitbringen: sie müssen von ihrer eigenen Bedeutung überzeugt sein, und sie dürfen keinen eindeutigen Standpunkt haben. Denn ohne das eine, sagte Herr Shi-shmi, ohne die Überzeugung von der eigenen Bedeutung und Wichtigkeit hält es kein Mensch aus, so andauernd vom Wert seiner Person zu schreien, und ohne das andere, das Fehlen des Standpunktes, eckt er notgedrungen bei der Mehrheit an.
    Das leuchtet mir sofort ein, sagte ich, aber folgt daraus nicht, daß die Ober-Mandarine Hohlköpfe sind und lügen? Denn nur ein Hohlkopf kann andauernd von der eigenen Bedeutung überzeugt sein. Einer, der denkt, zweifelt doch, zuallererst an sich selber? Und wer keinen Standpunkt hat, der muß doch wohl ununterbrochen lügen, ob er will oder nicht?
    Sie sprechen, sagte Herr Shi-shmi, ein hartes Urteil über die Ober-Mandarine; aber es läßt sich nicht von der Hand weisen, daß das Urteil stimmt.
    Übrigens werden nicht nur die Ober-Mandarine, sondern alle Kanzler, Mandarine, Gouverneure und so fort in dieser Weise gewählt, und nicht nur in Am-mei-ka, sondern in allen Ländern, die dieses System von dort übernommen haben, also in der halben Welt; auch in Ba Yan.
    Wie aber ist es in der anderen Hälfte? Dort ist es einfacher, sagte Herr Shi-shmi. Dort setzt nach dem Tod des regierenden Ober-Mandarins im Ober-Mandarinspalast ein Kampf bis aufs Messer ein. Ein Mandarin bringt den anderen um, stößt ihn die Treppen hinunter, wirft ihn zum Fenster hinaus – bildlich gesprochen –, und der stärkste bleibt übrig. Der tritt dann auf den Balkon, und das Volk jubelt ihm zu.
    Dieses System, sagte ich, ist mir geläufig.
    Ja, sagte Herr Shi-shmi, das denke ich mir. Nur: auch dieses System legt Wert darauf, fast größeren sogar als das andere, eine Volksherrschaft genannt zu werden. Deswegen wird der eigentliche Vorgang der Machtergreifung im Land der Lu-sen ängstlich geheimgehalten und geleugnet.
    Ja, sagte ich und zitierte ein Wort des alten Weisen vom Aprikosenhügel: »Regieren ist lügen.«
    Nun gibt es, damit ich in der Sache weiterfahre und nicht ferner abschweife, sowohl Vasallenstaaten des einen wie auch des anderen Reiches, und wo die beiden Einflußsphären aufeinanderstoßen, haben sie eine Mauer ähnlich unserer Großen Mauer gebaut, nur, sagt Herr Shi-shmi, nicht so schön. Es sind aber da auch Reiche, kleinere und größere, die sich keinem der beiden Systeme angeschlossen haben. In den meisten Fällen, sagt Herr Shi-shmi, müsse man allerdings sagen: die versuchen sich keinem System anzuschließen, sondern einen eigenen und unabhängigen Weg zu gehen. Fast nie gelingt das. Entweder gehören die betreffenden Staaten insgeheim und ihrer eigenen Theorie widersprechend doch zu dem einen oder anderen Staatssystem, oder sie schwanken, je nach ihrem Vorteil, von einem zum anderen, oder sie sind restlos unbedeutend. Einzig, und das hat mich selbstverständlich mit Freude erfüllt, unser Ehrwürdiges Reich der Mitte – das auch längst keinen Kaiser mehr hat, sondern einen Ober-Mandarin – gehört zu keinem der beiden Systeme und ist so, sagt selbst Herr Shi-shmi, nach vielen Jahren von Erniedrigung und Chaos wieder zu einem Reich der Mitte geworden. Es sei dort heute so, daß der Ober-Mandarin nach Art der Lu-sen bestimmt

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