Briefe in die chinesische Vergangenheit
Die Kaufleute, sagte Herr Shi-shmi, geben im Reich Am-mei-ka den Ton an, und ihr Ansehen ist größer als das aller Mandarine und Philosophen. Kann das gutgehen? Herr Shi-shmi zuckte mit den Schultern.
Die andere – die Staatstheorie des Reiches Lu-sen – geht davon aus (wo ihr, meine ich, wohl beizupflichten ist), daß die Bevölkerung, namentlich die in niederem Stand lebende, zu beschränkt ist, um zu erkennen, was ihr dienlich ist und was nicht. Daher regelt dort der Staat alles und jedes bis ins kleinste, und keiner darf tun, was er will. Das bringt natürlich mit sich, daß ein ungeheurer Verwaltungsapparat aufgebaut werden muß, denn was normalerweise von allein geschieht, wenn man die Leute tun läßt, was sie wollen, muß jetzt verordnet werden. Sie haben, sozusagen, ein Ministerium, das bestimmt, daß die Flüsse abwärts fließen. Auch da hatte ich einen Einwand: besteht dann dort nicht die Hälfte der Bevölkerung aus Beamten, die aufpassen, was die andere Hälfte tut? So ist es, sagte Herr Shi-shmi. Und die Steuern, fragte ich, die die Überwachten zahlen, decken gerade die Gehälter der Beamten? Ungefähr, sagte Herr Shi-shmi, obwohl die Regierung der Lusen dem Vernehmen nach doch noch einen gewissen Überschuß herausarbeitet. Vielleicht haben sie inzwischen ihr System verbessert, und es kommen auf drei Arbeiter nur zwei Beamte. Trotzdem sind sie bis heute, gemessen am Wohlstand des Reiches von Am-mei-ka, auf keinen grünen Zweig gekommen. Zumal, warf ich ein, die Korruption dort blühen dürfte, wo alles von Beamten geregelt wird? So ist es, sagte Herr Shi-shmi.
Weder in dem einen noch in dem anderen Reich gibt es eine regierende Dynastie, auch keinen Kaiser, jedenfalls keinen, der als Sohn des Himmels gälte oder sonstwie seine Macht auf die Gnade des Himmels zurückführte. Die Kaiser und die Könige sind abgeschafft, sagt Herr Shi-shmi, und man hat sie durch eine Art Ober-Mandarine ersetzt, die als Menschen gelten und keinen Anspruch auf göttliche Verehrung haben. Die Würde dieser Ober- oder Chef-Mandarine ist nicht erblich. Das scheint den Großnasen sehr wichtig zu sein. Es sei kaum jemals vorgekommen in den vielen Jahren, in denen das System jetzt gilt, daß der Sohn eines Ober-Mandarins auch Ober-Mandarin geworden ist. Man hütet sich davor. Ich nehme an: die Großnasen haben Angst, daß sich daraus eine Dynastie von Ober-Mandarinen bilden könnte und daß es dann doch wieder einen Kaiser gäbe. Die heimliche Sehnsucht der Großnasen nach einem wirklichen Kaiser von göttlicher Herkunft scheint groß zu sein, wenn sie so ängstlich die Erblichkeit des Ober-Mandarinamtes umgehen. Ich kann es verstehen. Eine Welt ohne Regierung aus himmlischer Gnade? Kein Mensch bei uns könnte sich das vorstellen. Ich gehe auch nicht davon ab, daß unser Regierungssystem das natürlichere und für die Menschen angemessenere und wahrscheinlich auch das billigere ist.
Der Ober-Mandarin von Am-mei-ka wird von den Bewohnern des Reiches gewählt, und zwar alle vier Jahre. Jeder bekommt einen Zettel und schreibt den Namen dessen darauf, den er für würdig hält, Ober-Mandarin zu werden. Hat so etwas die Welt schon gehört? Gut – meine Dichtergilde »Neunundzwanzig moosbewachsene Felswände« wählt auch den Ober-Dichter aus ihrer Mitte, und auch sie schreiben auf Zettel die Namen … aber das sind neunundzwanzig Mitglieder. In Am-mei-ka gibt es tausendmaltausendmaltausend Bewohner, wohl dreißigmal mehr als im Reich der Mitte zu unserer Zeit leben. Wieviel Leute kennt einer? Die Familie, die Freunde, die Kollegen – alles in allem, wenn es hochkommt, zweihundert. Da kann doch niemand beurteilen, wer unter tausendmaltausendmaltausend der Würdigste ist? Wählt da nicht jeder nur sich selber (wie es das vorletzte Mal bei meiner Dichtergilde war)?
Ja und nein, sagte auf diesen Einwand Herr Shi-shmi. Es wird da nämlich eine Vorauswahl getroffen. Ich solle mir das so vorstellen: die Kaufleute, die einflußreichsten Sippen dort im Land Am-mei-ka, haben ein Interesse daran, daß einer der ihren oder zumindest ein Freund ihres Standes zum Ober-Mandarin gewählt wird. Sie schicken also Boten im Land umher, die den Namen dessen herumschreien, den die Kaufleute gewählt wissen wollen, und die dessen Bild überall hinkleben.
Warum wählen dann nicht gleich nur die Kaufleute den Ober-Mandarin? Warum fragt man dann überhaupt die anderen, unbedeutenden Leute? fragte ich.
Weil, sagte Herr Shi-shmi, die Kaufleute unter
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