Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Briefe in die chinesische Vergangenheit

Briefe in die chinesische Vergangenheit

Titel: Briefe in die chinesische Vergangenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herbert Rosendorfer
Vom Netzwerk:
sah, weil er gebannt einer Dame zuschaute, die eben mit dem Schnabel eines Papageien koitierte – und er gibt eine Verordnung heraus!
    Wie gesagt, ich kann das alles überhaupt nicht in unsere Sprache übersetzen. Was ist eine Fa-wiq? Ich weiß es nicht. Offenbar gibt es Dinge in dieser Welt, die ich überhaupt noch nicht zu Gesicht bekommen habe. Vielleicht sind das die eigentlich wichtigen Dinge!
    Nur soviel kann ich sinngemäß wiedergeben – so auch etwa hat mir Meister Yü-len die Dinge in seiner etwas derben und vordergründigen, aber auch bildhaft-faßbaren Art zu umschreiben versucht: wie der menschliche Körper überflüssige und störende Säfte und Gase und Kot von sich gibt, die alle miteinander ja auch stinken, so gibt die Gesellschaft insgesamt auch giftige Gase, Säfte und Gestänke von sich. Im Gegensatz zum einzelnen Menschen, der für das Abladen des Unrats eher die Abgeschlossenheit aufsucht, tut es die allgemeine (also die großnäsige, füge ich hier hinzu) Gesellschaft in aller Öffentlichkeit und völlig schamlos.
    »Es ist so«, sagte Herr Yü-len-tzu, »als ob Sie – verzeihen Sie den Ausdruck – jahrelang in Ihr Wohnzimmer scheißen würden, und dann wundern Sie sich, daß es stinkt und unbewohnbar wird. Genau in dieser Situation befindet sich unsere Gesellschaft heute.«
    »Ist es schon zu spät, um etwas dagegen zu tun?« fragte ich vorsichtig.
    »Manchmal befürchte ich das«, sagte er.
    Wir verließen das Damen-Entkleidungs-Etablissement, nachdem Herr Yü-len-tzu eine nicht unbeträchtliche Summe bezahlt hatte. Es war schon spät, lang nach Mitternacht. Wir gingen schweigend und nachdenklich zu unserem Hong-tel. Es begann zu tröpfeln. Ich hielt meine Hand flach ausgestreckt und betrachtete die Tropfen auf meinem Handrücken.
    »Ja, ja –«, sagte Meister Yü-len.
    »Essig?« fragte ich.
    »Früher«, sagte Herr Yü-len-tzu, »war ich Optimist und befürchtete nur ab und zu, daß es schon zu spät ist. Heute? Heute gibt es nur noch seltene Momente, wo ich das nicht befürchte.« In der Halle des Hong-tels verabschiedeten wir uns.
    Habe ich nicht schon genug von dieser Welt gesehen? Weiß ich nicht schon, daß sie verrottet und verkommen ist, ihrem unweigerlichen Untergang entgegengeht? Wenn ich auch vieles noch nicht gesehen habe, könnte ich eigentlich zurückkommen … natürlich nicht ohne Frau Pao-leng noch einen Besuch gemacht zu haben. Sie und der alte Meister We-to-feng sind Lichtblicke. Aber was helfen Lichtblicke, wenn man an einen Abgrund gedrängt wird. So fühle ich mich. Ich wollte, ich könnte fliehen, aber der Kompaß, den wir konstruiert haben, verbietet es. Ich muß warten, bis der berechnete Kontaktzeitpunkt wiederkommt, und das dauert ja leider noch lang.
    Ich werde mir die Zeit bis dahin hier so angenehm wie möglich machen. In drei Tagen besuche ich wieder Herrn Shi-shmi. Die Himmlische Vierheit spielt dann bei ihm. Darauf freue ich mich. Morgen aber geht Frau Pao-leng mit mir zu einem Mann, der jene kleinen Augen-Gestelle herstellt. Er soll mir eins anmessen, meint sie, damit ich besser lesen kann und nicht immer die Blätter beim Lesen und Schreiben so weit weg halten muß.
    Ich umarme Dich, mein liebster, treuester Freund. Ich freue mich auf die Rückkehr
    und bin Dein Kao-tai

Zwanzigster Brief
    (Sonntag, 20. Oktober)
    Teurer Freund Dji-gu.
    Es ist nun endgültig Herbst geworden. Die Blätter verfärben sich. Heute haben wir den ersten Herbst-Neumond. Kein Mensch bei den Großnasen kümmert sich um so etwas. Als ich es der Dame Pao-leng sagte, antwortete sie nur: »Ach so?« Die Großnasen haben nicht nur den Zusammenhang mit den Dingen verloren, sie haben sogar den Sinn für die Notwendigkeit des Zusammenhanges verloren, daher empfinden sie ihre Unordnung nicht als Unordnung.
    Da könnte man sich fragen – wenn man nach Art der Großnasen dächte, die alles immer hin und her wenden, so wie sie auch ständig hin und her rennen –: ist es dann nicht eben gut, wenn sie schon in Unordnung leben, daß sie diese Unordnung wenigstens nicht als solche empfinden? Ist nicht Unordnung, die man nicht als solche empfindet, Ordnung?
    Eine Großnase – sofern sie überhaupt so weit denkt – würde nicht anstehen, diese Fragen zu bejahen. Das kommt aber daher, daß sie den Zusammenhang mit den Dingen verloren haben und daß sie die Kenntnis der Zusammenhänge durch die Bedeutung ihrer Person, die sie für groß halten, ersetzen. Wir, liebster Freund, aber wem sage ich

Weitere Kostenlose Bücher