Briefe in die chinesische Vergangenheit
verteilte. Die fragte ich, und tatsächlich brachte sie nicht nur das ›Li Chi‹, sondern auch das ›Lun Yü‹ und das ›I Ching‹, auch das ›Tao-te-ching‹, alles in die Sprache der Großnasen übersetzt. Ich kaufte das ›Li Chi‹. Ich lese inzwischen so gut die Sprache der Großnasen, daß ich ganz gut ermessen konnte, ob die Übersetzung den Sinn dieses ehrwürdigen Werkes richtig wiedergibt. Es war der Fall. Daher schenkte ich das Buch der Dame Pao-leng mit einer Verbeugung und bat sie, es zu lesen. Bis jetzt hat sie es nicht gelesen. Sie sagt: sie habe im Augenblick keine Zeit dazu. In Wirklichkeit, vermute ich, ist es so, daß sie sich vor der Erkenntnis fürchtet und lieber die kleinen Pillen schluckt.
Auf die ganze Sache mit der angeblichen Wissenschaft von der Seele bin ich durch Frau Pao-leng gekommen. Eines Tages, das ist schon länger her, sagte sie zu mir, daß eine Freundin von ihr mich kennenlernen wolle. Da ich nichts dagegen habe, im Gegenteil, da ich drauf aus bin, soviel Erfahrung wie möglich zu sammeln, willigte ich ein; nicht ahnend, worauf ich mich da einließ. Vor wenigen Tagen, kurz nachdem ich den letzten Brief geschrieben hatte, sagte mir Frau Pao-leng, daß wir beide, sie und ich, bei jener Freundin abends zum Essen eingeladen seien.
Nun darfst Du aus allem, was ich eben von Frau Pao-leng geschrieben habe und was vielleicht wie Tadel klingt, nicht auf gewandelte Gefühle meinerseits gegenüber der Dame schließen oder daß ich sie nunmehr bei näherer Kenntnis als verrücktes Huhn betrachte. Nein: ich bin ihr nach wie vor äußerst gewogen, auch die Freuden der Liebe, die sie spendet, sind für mich ein Quell der Erquickung. Was ich an ihr auszusetzen habe, ist nicht ihr Gebrechen, sondern das allgemeine Gebrechen der Großnasen, der Umgebung, in der sie lebt und der sie sich natürlich nicht entziehen kann; es sei denn, sie läse endlich das ›Li Chi‹. Nach wie vor ist Frau Pao-leng rührend um mich besorgt, nennt mich ihren »Kleinen Chinesen« und tut viel, um meine Tage angenehm zu machen. So hat sie sich, zum Beispiel, nunmehr ein rostbraunes Netzkleid gekauft … aber davon wollte ich nicht schreiben. Sie ist fürsorglich und hat ihrer Freundin gleich mitgeteilt, daß diese ja nichts kochen solle, in dem Rindsmilch enthalten ist, und daß in genügender Menge Mo-te Shang-dong kühlgestellt werden solle. Gegen Abend also stiegen wir in den kleinen A-tao-Wagen von Frau Pao-leng und fuhren durch viele Straßen bis in einen Vorort hinaus, wo es Bäume gibt. Dazwischen stehen aber auch große Häuser, zum Teil so große, wie im Innern der Stadt. In einem dieser Häuser wohnt die Freundin. Sie heißt Frau Da-ch’ma und ist nicht viel größer als ich.
Frau Da-ch’ma ist zwar verheiratet, erfuhr ich, aber ihr Mann lebt zur Zeit irgendwo in der Ferne und gibt ihr seine Befehle nur mittels des Te-lei-fong. Kinder hat Frau Da-ch’ma nicht. Das ist auch so eine Sache. Ich habe mich danach erkundigt. Du weißt, daß ich nicht dazu neige, mich in Intimitäten zu verbreiten, aber da dies zur Welt der Großnasen gehört, werde ich es doch schreiben. Nachdem ich nun schon seit einiger Zeit mit meiner schönen Freundin, der Dame Pao-leng, der Liebe pflege, und da ich mich dabei noch nie zurückgehalten habe, die ganze Kraft meiner Männlichkeit ihrem Schoß zu spenden, habe ich mir meine Gedanken darüber gemacht, wie es denn sein wird, wenn – das wäre, meiner Berechnung nach, nicht lang nach meiner Abreise – Frau Pao-leng ein Kind zur Welt bringt. Wenn es ein Sohn ist, habe ich mir gedacht, soll man ihn Kao-leng nennen.
Eines Tages habe ich mit Frau Pao-leng dann auch darüber gesprochen, denn ich wollte ihr anbieten, für die Erziehung des Sohnes meine eiserne Reserve, die Goldbecher, zurückzulassen. Sie lachte aber und sagte: ich solle mir keine Sorgen machen. Wieso Sorgen? fragte ich. Kinder bereiten doch nur Sorgen, wenn sie die Erziehung nicht richtig aufnehmen und die Ordnung nicht anerkennen. Wieso sollte ein Sohn eine Sorge sein? Ich habe zwar – in ferner Vergangenheit, aus der Sicht der Großnasen – vier Söhne von meiner Hauptfrau und acht von Konkubinen, außerdem etwa dreißig Töchter, dennoch freue ich mich über jedes Kind, namentlich über einen Sohn. Ein wenig merkwürdig dabei wäre natürlich schon, daß dieses Kind aus einem Samen gezeugt wird, der sozusagen tausend Jahre alt ist, also die geprägte Ordnung der Generationen heillos
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