Briefe in die chinesische Vergangenheit
das, haben dank der Lehren des weisen K’ung-fu-tzu und seiner Schüler eine festgefügte Kenntnis vom runden Himmel und der viereckigen Erde, vom Dunklen und vom Lichten, von den fünf Himmelsrichtungen, den vier Jahreszeiten und den fünf Getreidearten. Unsere Welt ist untadelig in ihrem Aufbau, wie ein ordentliches Gebälk gezimmert, und alles stimmt, wenn wir uns an die Gegebenheiten halten. Und wenn wir wissen wollen, was die Wahrheit ist, brauchen wir uns nur in das unsterbliche ›Lun Yü‹ vertiefen oder in das ›Li Chi‹.
Ohne jeden Zweifel ist auch unsere Welt nicht immer in Ordnung gewesen. Das wissen wir, die Angehörigen unserer Generation, nur zu gut, da wir alt genug sind, um die entsetzlichen und abstoßenden Greuel der Kriege in der Zeit der Fünf Dynastien erlebt zu haben, von denen uns erst der leider viel zu früh verewigte Erhabene Begründer unserer Dynastie befreit hat. Aber worauf waren diese Greuel, diese Bürgerkriege, zurückzuführen? Auf Unordnung. Darauf, daß die alten Riten und Bräuche nicht mehr eingehalten wurden, daß man die Belehrung des Volkes nicht mehr für wichtig hielt, daß der jüngere Bruder nicht mehr dem älteren diente, daß Kindesehrfurcht weitgehend verlorenging und daß die Fürsten nicht mehr die Würdigsten zu Kanzlern, Großschreibern, Geheimschreibern und Mandarinen erhoben haben, sondern diejenigen, die am lautesten schrien. Daß der alberne Buddhismus an der Unordnung mit schuld war, daran hast Du so wenig Zweifel wie ich.
Aber ich will hier nicht über die dumme und törichte und vor allem primitive Lehre dieses Buddha reden, die unser Volk leider seit fünfhundert Jahren vergiftet und offenbar nicht auszurotten ist.
Es war ganz klar, unter diesen Umständen, daß, wenn der Mechanismus, der zwischen Himmel und Erde besteht, vernachlässigt wird, das nicht ohne Folgen bleiben würde. Die Flüsse traten über die Ufer, das Getreide wuchs nicht, das Nephritszepter wurde trüb, die Skorpione bissen die kleinen Kinder, und zum Schluß kamen die Bürgerkriege der Fünf Dynastien. Es war aber auch ganz klar, daß dieser Mechanismus zwischen Himmel und Erde nur wiederhergestellt zu werden brauchte, damit wieder Ordnung eintrat.
Die Großnasen erkennen diesen Mechanismus nicht mehr. Sie empfinden dumpf die Unordnung, sind von Unrast befallen – ich sehe das zu genau bei Frau Pao-leng –, weigern sich aber, feste Maßstäbe anzuerkennen. Sie meinen immer, die Dinge müßten sich nach ihnen richten, und haben jeden Sinn dafür verloren, daß sie sich nach den Dingen richten müßten.
Es gibt bei ihnen eine ganze Wissenschaft, die behauptet, die menschliche Seele erforscht zu haben. Diese Wissenschaft ist so lächerlich wie der Buddhismus, mit dem sie übrigens einige Verwandtschaft zeigt. Aber diese angebliche Wissenschaft ist typisch für die Großnasen. Statt die Zusammenhänge von Himmel und Erde zu beachten und sich danach zu richten, was erforderlich ist, horchen sie in ihre jämmerlichen Seelen hinein und versuchen zu ergründen, welche Würmer sich darin krümmen. Und alles Unglück führen sie nicht auf die Unordnung zurück, die durch den Verlust der Kenntnis vom Zusammenhang der Dinge entsteht, sondern auf irgendwelche komischen Dinge, die ihrer Seele in der Kindheit oder gar im Mutterleib zugestoßen sein sollen, oder daß sie mit dem falschen Hirsebrei ernährt oder zu heiß oder zu kalt gebadet worden sind.
Wenn die Großnasen ihre Seele erforscht haben, dann empfinden sie sich als krank – selbstverständlich, lächerlich, wie auch anders. Wenn man sich lang genug von einem Arzt untersuchen läßt, wird man krank. Wenn die Großnasen ihre Seele als krank empfinden, werden sie unzufrieden und unstet. Wenn sie unzufrieden und unstet sind, essen sie kleine weiße oder rosarote oder gelbe Pillen (die Farbe richtet sich nicht , wie ich anfangs angenommen habe, nach der Jahreszeit, sie ist vielmehr willkürlich), und davon bekommen sie Magenkrämpfe. Ich beobachte das – leider – auch bei Frau Pao-leng. Sie hat lieber Magenkrämpfe, als daß sie sich bemühen wollte, den Zusammenhang der Dinge zu erkennen. Ich habe ihr empfohlen, das ehrwürdige Buch ›Li Chi‹ zu lesen – denn auch dieses Buch gibt es in einer Übersetzung in die Sprache der Großnasen! Ich war in einem der riesigen Bücher-Läden und habe mich – vorsichtig, ich war darauf gefaßt, ausgelacht zu werden – danach erkundigt. Es war eine Dame da, die die Bücher an die Kunden
Weitere Kostenlose Bücher