Briefe in die chinesische Vergangenheit
ohne ein Neumondopfer darzubringen. Wie sollte ich es auch tun? Es würde auf unüberwindliche Schwierigkeiten stoßen. Wie hätte ich bei Herrn Shi-shmi auf die Stufen der Osttreppe treten sollen, wenn sein Haus nur eine einzige Treppe hat, und die geht nach Westen? Herr Shi-shmi hätte zwar Verständnis für den Vollzug der Zeremonie gehabt, hätte mir sogar assistiert, wenn ich ihn darum gebeten hätte, aber das dumme Gelächter der anderen Hausbewohner wäre nicht auszudenken gewesen. Außerdem: wer sind meine Ahnen, wenn ich hier in einer fernen Zeit-Welt lebe? Bin ich selber mein Ahn, da ich doch eigentlich schon tausend Jahre tot bin? Ist es statthaft, daß ich mir gewissermaßen selber opfere? Verständlicherweise wird man weder im ›Lun Yü‹ noch im ›Chia Yü‹, im Erhabenen ›I Ching‹ nicht und nicht im ›Frühling und Herbst des Lü Pu-wei‹ eine Antwort darauf finden. Der Aprikosenhügel schweigt zu dieser Frage, vom Alten Meister auf dem Schwarzen Ochsen, den ich ohnedies nicht so sehr schätze, gar nicht zu reden.
Ich habe mir beim Antritt meiner Reise zwar vorgenommen, für meine Person die Riten und Sitten meiner Welt einzuhalten, komme, was da wolle, aber ich habe nicht eingerechnet, wie sehr sie sich in den tausend Jahren (und den zehntausend Meilen, von denen ich damals keine Ahnung hatte) verändern würden. So habe ich mich schon nach wenigen Tagen für die Zeit meines Aufenthaltes im Land der Großnasen von den Riten dispensiert. Ich berufe mich dabei auf den Ehrwürdigen Meister K’ung, der immer wieder sagt, daß man sich in der Fremde nach den dortigen Gegebenheiten richten soll und daß es töricht ist, dem Fremden die eigenen Sitten und Gebräuche aufdrängen zu wollen. Und im Abschnitt ›Yü Li‹ des ›Li Chi‹ heißt es: wenn man in ein fremdes Haus kommt, erkundigt man sich nach den Ausdrücken, die dort vermieden werden. Zwar sagt der Weise vom Aprikosenhügel auch, daß der Edle durch stilles, aber bestimmtes Vorbild wirken soll … aber sag selber, teurer Dji-gu, was könnte ich allein in dieser Welt von Unordnung bewirken, selbst wenn meine Tugenden zehnmal so stark wären, wie sie sind? Herr Shi-shmi besitzt eine Übersetzung des ›I Ching‹, ob er sie gelesen hat, weiß ich nicht. Frau Pao-leng habe ich, wie Du weißt, eine Übersetzung des ›Li Chi‹ geschenkt. Sie wird sie später lesen … sagt sie. Was kann ich mehr tun? »Die Sitte will, daß man von den Menschen gesucht wird, nicht, daß man die Menschen sucht; die Sitte will, daß andere zu uns kommen, um zu lernen, nicht, daß man andere aufsucht, um sie zu lehren.« Auch das steht im ›Li Chi‹.
So lebe ich hier, ohne die Riten zu beachten, ohne die ehrwürdigen Sitten zu befolgen, wie ein Barbar, wenngleich ich versuche, meine innere Tugend zu bewahren. »Wenn es solche Menschen gibt – unter den Großnasen, füge ich hinzu –, die an mir Freude haben, so ist es mir recht. Wenn niemand sich an mir freut, so freue ich mich wenigstens an mir selbst.« (Wie es im Buch ›Tsung-tzu‹ heißt.)
Mit Frau Pao-leng über die Sitten zu sprechen ist fast ohne Sinn. Nicht, daß sie etwa keine tugendhafte Frau wäre – in gewisser Hinsicht –, sondern weil sie ganz im Streben nach ihrer Zufriedenheit lebt, was natürlich, wie ich schon erwähnt habe, zu Unzuträglichkeiten führt. Wenn man den Zusammenhang mit den Dingen verliert, wenn man, anstatt die ewige Ordnung von Himmel und Erde zu erforschen und zu beachten, versucht, diesem Mechanismus den eigenen Willen aufzuzwingen, dann wird man zwangsläufig unzufrieden. Aber gut – dafür ist sie eine Frau und sehr schön. Meister Yü-len ist ganz ungeeignet für solche Gespräche. Er ist zwar ein Experte auf dem Gebiet der Waldbau-Kunst und hat viele tiefe Gedanken, was den hiesigen Staat und seine Ordnung betrifft, aber für die alten Riten hat er gar kein Verständnis. Er kenne nur einen Ritus, sagte er, und der sei, daß es ihm gutgehe. Einzig Herr Shi-shmi (und vielleicht Herr Richter Me-lon, aber den kenne ich noch nicht gut genug) ist geeignet für derartige Fragen. Vor wenigen Tagen war ich wieder bei Herrn Shi-shmi, weil die Musik der Heiligen Vierheit bei ihm stattfand. Ich kann mich nicht satt hören daran. Sie spielten zwei Werke des göttlichen Meisters Mo-tsa. Herr Shi-shmi versprach mir, mich demnächst in eine öffentliche musikalische Unterhaltung mitzunehmen, wo ich die Musik eines Orchesters kennenlernen soll. Übrigens kam er – leider,
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