Brigade Dirlewanger
gerade von ihm. Nie kann ich es tun, sagte er sich.
Er sah sie fest an. Wach auf, dachte er, dann endet der Spuk. Wenn man einen Schlafenden fest anstarrt, erwacht er doch, oder nicht? Er hat es irgendwo gelesen und erprobt. Aber vielleicht traf es nur Fremden gegenüber zu, die sich nichts bedeuteten, die mißtrauisch miteinander sein mußten. Vielleicht galt es nicht für zwei, die nichts mehr trennte …
Nichts mehr? Alles, überlegte Paul Vonwegh … und es muß sein! Die Energie, die er aufbrachte, war unheimlich. Er sah in dieses vertraute Gesicht, und er stellte es sich vor beim Verhör durch die GESTAPO … auf der Anklagebank des Sondergerichts … in der Gefängniszelle … auf dem Schafott vielleicht noch … Und da zwang er sich dazu. Er verlängerte den Abschied um fünf Minuten. Und diesmal hielt er sie ein.
Er schlich ganz vorsichtig, auf Zehenspitzen. Wie betäubt. Er wollte gehen, ohne sich umzudrehen. Aber das brachte er nicht fertig. Er stand an der Tür. Das Mondlicht zeichnete zärtlich jede Nuance ihres Gesichts. Karen drehte sich halb um, ihm zu. Das Lächeln wurde stärker. Sie sagte etwas, das er nicht verstehen konnte. Ein Flüstern, vielleicht nur ein Seufzer …
Wach auf, bat er inbrünstig, jetzt! Sag ein Wort! Sieh mich an, und ich bleibe. Bitte … aufwachen, Karen! Jetzt, sonst verlieren wir uns wieder … für immer, diesmal …
Paul Vonwegh stand wie versteinert. Er hörte ihre ruhigen Atemzüge.
Da öffnete er lautlos die Tür und sah geradeaus, den verfluchten Weg entlang, den er zu gehen hatte. Er sah die Sterne. Sie schimmerten kalt und fern. Eine Nacht wie heute. Dabei im Spätsommer. Aber für mich war es noch kälter, denkt Paul Vonwegh jetzt, der wieder nicht einschlafen kann …
Er hört Schritte, ein Stöhnen. Er richtet sich halb auf. Er schüttelt die letzte Benommenheit dünnen Schlafes ab.
Dann kommt der Schrei. Er kennt die Stimme schon. Es ist Maria, die jüngste der drei Russinnen. Und sie schreit in Angst, in Not.
Der Zugführer springt hoch, die MP im Arm. Hinter ihm purzeln fluchend die anderen durcheinander. Mit ein paar Sätzen erreicht er den Holzschuppen.
»Dieser Schweinehund!« sagt Petrat. »Ist über sie hergefallen …«
Vonwegh reißt die Türe auf. Er sieht in das widerwärtige Gesicht, in eine Fratze, wie er sie seit eh und je kennt: das Gesicht seines Feindes schlechthin. Des Mörders. Des Fanatikers. Des Herrenmenschen. Des Tieres. Diesen Ausdruck kennt Vonwegh. Er ging über die Grenze, als Gesichter dieser Art in Deutschland vorherrschten. Immer zuckt seine Hand nach dem Gewehrlauf, wenn er in eine solche Visage starrt …
Die Russin schlägt in dieses Gesicht. Vonwegh sieht, wie der Mann sie nach unten preßt. Ganz langsam nimmt er die MP von der Schulter, zieht sie hoch, zielt sorgfältig: dem Tier Fleischmann in das Gesicht. Zwischen die Augen. Eine Kugel nur. Blattschuß …
Der B-Soldat fällt nach hinten. Die Arme ausgestreckt. Sein Gesicht ist noch verzerrt.
Die Russin Maria sieht Vonwegh groß an. Er tritt an sie heran, will etwas sagen. Sie fängt seinen Blick auf und versucht zu lächeln.
»Was ist denn hier los?« brüllt Uscha Belle in der Tür.
»Befehl ausgeführt«, meldet Vonwegh kalt und deutet auf den erschossenen Fleischmann.
»Sind Sie wahnsinnig geworden?«
Der Zugführer schweigt verächtlich.
»Wissen Sie, daß Fleischmann ein SS-Offizier war?«
»Ein degradierter«, antwortet Paul Vonwegh. »Und es war Ihr Befehl, jeden, der sich an den Russinnen vergreift …«
»Sie Blödmann«, brüllt Belle, »das baden Sie aus beim Standartenführer … Damit habe ich nichts zu tun!« tobt er weiter. An seiner Stimme hängt Angst, Dirlewanger könnte ihn für den Tod Fleischmanns zur Rechenschaft ziehen.
Dabei weiß er noch gar nicht, daß Paul Vonwegh im ungünstigsten Moment den Abzug durchgedrückt hat …
Taumelig vor Hunger, gerädert von Strapazen, klamm vor Kälte zieht einen Tag nach der Vernichtung von Smolwiezki die Einsatzkompanie der Mordbrigade Dirlewanger als abgerissener, stumpfsinniger Haufen wieder in das Waldlager ein. Keine Truppe, eine Horde; keine Soldaten in Reih' und Glied, sondern uniformierte Wracks, die sich mehr dahinschleppen, als sie gehen.
Der Himmel ist fahl, er trägt das Grau der Ausgemergelten. Oberscharführer Weise sieht Dirlewanger am Eingang des Lagers, tritt an die Spitze und ruft: »Gleichschritt aufnehmen!«
Die Männer straffen sich ein letztes Mal.
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