bright darkness - strahlende Dunkelheit (German Edition)
Notizen, damit ich nichts versäumte. Natürlich unterrichtete sie mich auch über jede Neuigkeit und diverse Gerüchte, die ihr zu Ohren gekommen sind.
Als ich fieberfrei und die Halsschmerzen weg waren, beschloss ich wieder zur Schule zu gehen. Carol meinte zwar, ich solle noch ein paar Tage zu Hause bleiben, um sicher auskuriert zu sein, aber das wollte ich nicht.
Gesund, ausgeruht und putzmunter machte ich mich in meinen neuen Klamotten - natürlich weniger aufreizende als das rückenfreie Teil - auf den Weg zur Schule. Carol war wie immer schon weg.
Im Bus sah ich meistens dieselben Menschen, jeder hatte seinen Stammplatz. Ich saß direkt neben der Tür am Fenster, lehnte meinen Kopf gegen die Scheibe und starrte in Gedanken verloren auf die vorbeiziehenden Gebäude, die hektischen Menschen, die überfüllten Straßen. Es war trostlos, gewöhnungsbedürftig. Ich hatte mich noch nicht daran gewöhnt. Ob ich das jemals werde? Ein ganzes Leben ohne Wiesen, Bäume oder Seen. Würde ich mich jemals mit den künstlich angelegten Parks hier zufrieden geben oder kommt die Zeit, in der ich diese öde Stadt hinter mir lassen könnte? An und für sich wurde einem hier vieles, ja sogar fast alles, geboten, was man zum Leben und zum Vergnügen brauchte. Alles außer Natur, die ich so sehr vermisste. Das Geräusch der Blätter, wenn ein stärkerer Windstoß durch die Baumkronen fuhr. Die langen grünen Gräser, wenn sie sich im Wind fast bis zum Erdboden neigten. Die weiten Wiesen, in denen sich die Schatten der vorbeiziehenden Wolken spiegelten. Die sanften Sonnenstrahlen, die einen morgens weckten. Der Sonnenuntergang, der die Ruhestunden ankündete.
Wenn ich im Bus aus dem Fenster sah, kamen all diese sehnsüchtigen Erinnerungen in mir hoch. Ich könnte das alles wieder haben, wenn ich zurückginge. Aber das konnte ich nicht. Ich konnte meine Mutter hier nicht im Stich lassen. Es hätte ihr das Herz gebrochen, auch wenn sie es nicht zugab. Und das hätte mich letzten Endes auch nicht glücklicher gemacht. Ob ich nun in Rainsville oder in Philadelphia war, außerordentlich glücklich konnte ich weder da noch dort sein. Ich musste mich endlich damit abfinden. Nicht mehr zurückblicken. Nach vorne schauen. Positiv denken. Das Beste draus machen! Das nahm ich mir fest vor.
Ich wollte anfangen glücklich zu sein und begann augenblicklich damit, indem ich meine Mundwinkel leicht nach oben zog, um ein kleines Lächeln aufzusetzen. Es war gar nicht so schwer. Dann überlegte ich mir ein paar schöne Dinge, um dieses aufgesetzte Lächeln zu behalten. Es fiel mir leider nicht sofort etwas ein, darum wechselte ich mein Blickfeld und sah zu der alten Dame, die direkt neben mir saß. Meine Mundwinkel gaben der Schwerkraft nach und hingen wieder nach unten, als ich merkte, wie sie mich mit abgeneigter Körperhaltung und finster musternder Miene anschaute, als ob ich eine geisteskranke Irre sei, die soeben aus einer Nervenheilanstalt entlassen worden war. So abwegig war diese Vorstellung ja auch gar nicht. Man konnte nie wissen, welche dunkle Vergangenheit derjenige hatte, der gerade neben einem an der Fußgängerampel stand, oder welche Verbrechen ein Sitznachbar im Bus schon begangen hatte. Man konnte sich niemals sicher sein, dass die Menschen, deren Gesichtsausdrücke so nett und freundlich waren, nicht in Wahrheit schon Pläne für eine Kindesentführung hegten. Grrr. Ich schüttelte diese angsteinjagenden Gedanken ab und erinnerte mich daran, was ich mir vorgenommen hatte. Positiv denken. Keine bösen Vorurteile. Nicht jeder in Philadelphia lebende Mensch war schlecht, ermahnte ich mich wieder einmal. Es war aber auch nicht einfach, offen durch die Welt zu gehen, wenn in den Nachrichten jeden Abend von freilaufenden Schwerstverbrechern berichtet wurde. Erst gestern wurde wieder eine junge Frau zusammengeschlagen und geschändet aufgefunden. Ein Raub in einem Tabakfachladen wurde einem Verkäufer zum Verhängnis, er hatte eine Schussverletzung erlitten. Plakate von vermissten Kindern hingen an Türen und Werbetafeln. Auch die Tageszeitungen waren voll von Berichten über Gewalttaten. Ich war froh, als der Bus endlich in die Haltestelle vor meiner Schule einfuhr. Ich ging an der alten mürrischen Dame, die neben mir saß, mit aufgesetztem freundlichem Ausdruck vorbei, um ihr zu beweisen, dass ich keine durch geknallte Irre, sondern einfach nur nett war, und verließ den Bus.
Velisa wartete bereits an unserem Treffpunkt und
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