Bring mich heim
welches ich für diesen Zeitpunkt bestimmt hatte.
Wir blieben stehen. Mein Vater sprintete zur Beifahrerseite, half mir heraus und brachte mich zur Notaufnahme. Mit lauter Stimme schrie Papa nach Hilfe. Sofort waren zu viele Hände um mich. Sie zogen mich vorwärts. Zerrten mich an meiner intakten Hand in einen kleinen Raum. Dort legte man mich auf eine der zwei Liegen und begutachtete meinen Arm. Drehten ihn von der einen zur anderen Seite. Gaben Druck auf die Wunde, um die Blutung zu stoppen.
Ich fühlte mich leicht, wie eine Zuseherin, welche nicht mitten im Geschehen war, sondern alles von der Ferne beobachtete. Ein Arzt kam dazu, welcher den Schnitt säuberte und nähte. Während er das tat, versuchte er mit mir zu sprechen, aber auch ihm gab ich keine Antwort auf das Wieso . Jeder hier fragte mich, wieso. Aber es war doch so eindeutig. Da brauchte niemand eine Antwort.
Ich lag bloß versteinert auf der Liege, sah mir die weiße Decke mit den Neonröhren an und fragte mich wieso ich . Wenn mein Vater nicht früher heimgekommen wäre, hätte das alles hier ein Ende gefunden.
Kapitel 5
Mia – Meine Sonne
Graz, Juni 2012
»Alles in Ordnung mit dir?« Meine Mutter holte mich in das Hier zurück. Ich lebte noch. Und es ging mir tatsächlich besser. Vor einem Jahr kreisten meine Gedanken immer um ein Thema. Wieso ich? Heute fühlte ich mich so weit gut. Verdrängen sollte ja bekanntlich helfen ...
»Ja, alles okay. Ich ... egal, lass uns weitermachen«, lächelte ich meine Mutter an und strich mir über die lange Narbe, welche meinen linken Unterarm zierte.
Dieser Rucksack war zwar überdimensional, aber ich meinte es wohl zu gut mit dem Gepäck. Meine Mutter starrte mein Bett an, noch immer lagen genügend Kleidungsstücke darauf verstreut.
»Das bringen wir niemals hier hinein. Wieso brauchst du überhaupt diese Schuhe?« An ihren Fingern baumelten meine heiß geliebten High Heels. »Du hattest sie ohnehin seit einem Jahr nicht mehr an. Und ausgerechnet auf diese Reise, in einem Zug, möchtest du sie mitnehmen? Was habe ich bloß falsch bei der Erziehung meiner Töchter gemacht?« Sie seufzte laut vor sich hin.
»Mama ...«, warf ich bissig ein und schnappte meine Schuhe aus ihren Händen.
»Komm schon, das war doch nur ein Scherz. Aber diese Dinger lässt du trotzdem besser hier«, lächelte sie mich an. Sie umarmte mich mit einer Hand an den Hüften und legte ihren Kopf an meiner Schulter ab. Es war nur eine kleine Berührung. Nicht sonderlich angenehm, aber es war meine Mama, und ich wusste, sie benötigte das jetzt.
Sie lehnte sich noch fester gegen mich. Sie war die Einzige, bei der ich es lange aushielt. Meine Mutter war nicht nur Mama für mich, sie war auch meine beste Freundin und eine der schönsten Frauen, die ich kannte. Obwohl sie bereits 50 Jahre hinter sich hatte, merkte man es ihr kaum an. Vielleicht lag es an ihren langen blonden Haaren oder den großen grünen Knopfaugen. Aber eigentlich ziemlich egal. Sie war wunderschön mit ihren hohen Wangenknochen und den vollen Lippen.
Ich verstand meinen Vater nur allzu gut, wie er sich vor all den Jahren in sie verlieben konnte. Wenn man sie sah, hatte man auf der Stelle das Bedürfnis zu lachen. Ihre Laune wirkte ansteckend. Und meist war sie gut gelaunt. Mama brachte einfach enorm viel Energie und Persönlichkeit mit sich. Sie war die Sonne, die Mitte in unserer kleinen Familie.
»Ich werde dich vermissen, mein großes Mädchen.« Mama nahm mich noch enger an sich. Langsam strich ich ihr den Rücken auf und ab und flüsterte in ihr Ohr: »Ich dich auch. Ich dich auch ...« Ich spürte meine Schulter feucht werden. Meine Mutter weinte leise vor sich hin.
Es tat mir weh, sie so gebrochen zu sehen. Vor allem, weil ich wusste, dass ich der Grund für ihre Sorgen und den Schmerz war. Ständig war ich hin- und hergerissen, ob ich nicht doch bleiben sollte, um ihr das zu ersparen. Aber es ging nicht.
»Alles wird gut, Mama, ich bin schließlich nicht aus der Welt.« Ein Seufzer entkam mir. Kaum hörbar fügte ich hinzu: »Vielleicht bald zurück.« Ich lockerte die Umarmung, um ihr ins Gesicht blicken zu können, gab ihr einen Kuss auf die Wange, schmeckte die salzigen Tränen. »Außerdem, wer sagte vorhin noch, dass sie froh sei, dass es endlich wieder ruhiger werden würde.«
Ein Lächeln entkam ihr, während noch einige Tränen das Gesicht runterkullerten. »Und dennoch werde ich dich vermissen«, sagte sie sanft, dabei strich sie mir mit
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