Bring mich heim
Nadeleinstichen und blaue Flecke auf meinen Armen.
Ich konnte mich selbst nicht mehr ansehen. Diese Person, die zurückstarrte, kannte ich nicht. Sie war mir fremd. Eine Fremde mit meinem Gesicht. Sie sah mir ähnlich, aber war nicht ich. Ich fand mich darin nicht.
Wo sollte ich mich zu suchen beginnen? Gab es mich noch?
Wie konnte ich mich so annehmen, wenn ich mir selbst nicht gefiel?
Ich sah ausschließlich das Negative in mir.
Kapitel 6
Mia – Ein langer Abschied
Graz, Juni 2012
Am nächsten Tag konnte die Reise beginnen. Ich war nervös. Das letzte Mal, wo ich auf mich alleine gestellt war, lag eine Ewigkeit zurück. Aber es musste klappen. Und wenn es ein holpriger Weg werden würde.
Am Bahnhof herrschte ein reges Treiben. Es wurde wild durcheinandergeschrien. Küsse verteilt. Tränen wurden vergossen.
Und ich stand mit meiner Mutter da und umarmte sie lange. Viele Leute wirbelten hektisch um uns. Züge rauschten an uns vorbei. Die Zeit blieb jedoch einen Moment für Mama und mich stehen.
Wir kosteten diesen Augenblick, so gut es ging, aus. Ich wusste, dass ich sie wahnsinnig vermissen würde. In diesem einen Jahr war sie immer für mich da gewesen. Sie war Mutter und Freundin in einer Person, die mich zu jedem Zeitpunkt versuchte aufzubauen.
Besonders dankbar war ich ihr für die Unterstützung, welche sie mir während meiner Therapien und Untersuchungen gab. Sie fuhr mich hin, wartete den halben Tag mit mir, bis ich fertig war und wieder heim durfte. Mama war schlichtweg mein Fels in der Brandung. Sie beklagte sich nicht einmal. Viel zu oft schrie ich sie an, weil ich nicht mehr wollte und sie mich doch einfach verrotten lassen sollte. Ich schlug mit meinen Fäusten auf sie ein. Mama wartete geduldig und ließ es zu, bis ich mich beruhigte. Bis ich schließlich unter Tränen in ihren Armen zusammenbrach.
Meine Mutter war in dieser Zeit alles für mich. Kein einziges Mal sagte ich Danke zu ihr.
Langsam ließ sie mich aus ihrer Umarmung, ihre Hände hielten weiterhin meine. Sie nahm einen kräftigen Atemzug. Blies danach die ganze Luft aus ihren Lungen. Mamas Augen waren nass, aber ich wusste, sie versuchte, nicht zu heulen. Ein schwaches Lächeln befand sich auf ihren Lippen.
Ich blickte kurz zu meinem Vater. Er beobachtete uns und nickte mir traurig zu. Papa fiel es schwer Emotionen zu zeigen. Er beobachtete lieber von der Ferne. War jedoch immer zum passenden Zeitpunkt da, wenn man ihn benötigte, wenn es die richtige Zeit war, mehr Gefühle preiszugeben.
Ich holte tief Luft. Sah Mama in ihre wunderschönen Knopfaugen. »Danke, Mama.« Nervös biss ich auf meine bereits beschädigte Unterlippe. Auch für mich war es nicht die einfachste Aufgabe, über meine Emotionen zu sprechen. Die Ähnlichkeit zu meinem Vater war hier ziemlich prägnant.
Die Augen meiner Mutter wurden noch wässriger. Eine einsame Träne rollte über ihre Nase und tropfte zu Boden. Sie suchte meine Augen und strich mit ihren Händen liebevoll meine Oberarme auf und ab, um mich zu beruhigen. Ich konnte ihrem Blick nicht lange standhalten. Es tat zu sehr weh, den Schmerz in ihrem Gesicht zu sehen. Ich musste ausweichen, ansonsten würde ich das nicht über meine Lippen bringen.
Mit dem Blick zu den Füßen gesenkt murmelte ich: »Danke.«
Meine Mutter hob mit ihrem rechten Zeigefinger mein Kinn. »Sieh mich an, Mia.« Sie schenkte mir ein Lächeln und wartete geduldig, bis ich weitersprach.
»Danke, Mama. Du warst für mich das ganze Jahr da. Danke, für alles, das du für mich getan hast.« Eine weitere Träne entkam ihr und rollte die Wange herab. »Ich weiß, ich war wohl nicht die Einfachste«, sagte ich sehr leise. »Du ... du hast dich nie beklagt. Nie ...«
Ich musste meinen Blick wieder senken. Ich konnte nicht mit ansehen, wie es meiner Mutter das Herz zerriss und immer mehr Tränen über ihr Gesicht liefen. Ich wollte nur, dass sie wusste, wie sehr ich sie mochte. Dass sie mich im Guten im Kopf behielt.
»Ich bin dir so dankbar, dass du in jeder Situation für mich da warst. Du bist nicht nur Mutter gewesen, du warst die beste Freundin, die man sich in so einer Zeit vorstellen konnte.« Langsam blickte ich hoch und sah sie schließlich richtig weinen. »Danke.«
Mama fiel mir um den Hals und ich musste mich konzentrieren, dass die Anspannung in meinem Körper durch diese Berührung nicht zu viel wurde.
An meinem Nacken seufzte sie: »Ach, Mia ... Ich bin immer für dich da ... immer.« Sie ließ etwas
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