Bring mich heim
dem Handrücken über meine Wange. »Pass nur auf dich auf, Mia. Wenn irgendetwas sein sollte ... komm heim, bitte.«
Ich nickte ihr einfach zu, biss mir fest auf die Lippen, damit ich nicht zu weinen begann, bis ich das Blut spürte. Der Schmerz lenkte mich ab. Ich hatte jetzt stark für meine Familie zu sein. Ich musste stark für mich sein.
»Mein hübsches Mädchen«, lächelte sie mich an.
Sie versuchte mir immer wieder klar zu machen, dass ich ihr Gesicht hatte. Mit den großen, grünen Augen und den blonden Haaren. Aber diese Meinung teilte ich nie, schon gar nicht zu diesem Zeitpunkt.
Meine Wangen waren eingefallen. Meine Augen zwar grün, jedoch leblos mit dunklen Ringen darunter von den vielen schlaflosen Nächten.
Und meine Haare ...
Kapitel 5 1/2
Mia – Wer bin ich nun?
Graz, Juni 2011
Ich hatte seit Langem wieder einmal eine angenehme Nacht. Eine Nacht, in der ich mich nicht stundenlang herumwälzte und keinen Schlaf fand. Ich musste mir nicht den Sonnenaufgang mit ansehen und das fröhliche Morgengezwitscher der Vögel anhören. Nein, ich konnte, ohne aufzuwachen, einfach nur schlafen.
Müde gähnte ich, streckte meine schmerzenden Glieder. Mit den Händen fuhr ich mir über das Gesicht und rieb meine Augen. Langsam setzte ich mich auf und kämmte meine langen blonden Haare mit den Fingern.
Starr vor Schreck hörte ich mitten in der Bewegung auf. Ich träumte wohl noch. Bitte nicht ich . Mein Herz pumpte stärker. Es raste. Die Hände begannen zu zittern. Ich schloss meine Augenlider. Meine Arme senkte ich, legte sie in meinen Schoß.
Nervös biss ich an meiner rauen Unterlippe und versuchte kräftig durch die Nase ein- und auszuatmen. Sehr zögernd öffnete ich meine Augen.
Nein ... Ein lauter Schrei entkam mir und Tränen bildeten sich sofort in meinen Augenwinkeln.
Jemand schrie voller Panik meinen Namen. Meine Schwester. Sie stürmte, ohne anzuklopfen, in das Zimmer. Blieb im Türrahmen stehen und sah mich fragend an. Ich sah mit einem leeren Ausdruck zu ihr.
»Mia, was ist los? Ich habe dich schreien gehört.«
Ich starrte sie nur mit weit aufgerissenen Augen an. Mein Herz schlug nach wie vor zu kräftig in meiner Brust. Das Atmen fiel mir schwer.
»Mia?«, sagte sie sanft. Ich schüttelte nur meinen Kopf. Anna ging die paar Schritte von der Tür zu mir. Sie sah zu mir herab. Ich blickte starr hoch, dabei schüttelte ich noch immer meinen Kopf.
»Anna? Schlafe ich? Sag mir bitte, dass ich noch schlafe«, jammerte ich kaum hörbar.
Sie kniete sich vor mich hin und nahm das Haarbüschel aus meinen Händen. »Nein, Mia, es tut mir leid. Das hier ist kein Traum«, versuchte sie so ruhig sie konnte zu sagen.
Jeden Tag fand ich mehr Haare auf meinem Kopfkissen. Ich hatte Panikattacken. Schrie, als ich aufwachte. Wer auch immer von den drei in das Zimmer kam, musste mich zur Ruhe bringen und mich daran erinnern, dass ich atmen sollte.
Ich hatte Angst mit einer Bürste durch den Rest, der auf meinem Kopf war, zu fahren oder mir mit den Händen durchzufahren. Es wurden einfach mehr Haare in der Bürste, als sich auf meinem Kopf befanden. Meine Mutter sorgte sich am meisten um mich. Sie versuchte mich jeden Tag aufs Neue zu besänftigen, wenn ich abermals heulend mit Strähnen zwischen den Fingern zu ihr kam.
»Mein großes Mädchen, das sind nur Haare. Sie werden wieder nachwachsen«, versprach sie mir.
Aber es waren meine Haare, welche neben mir lagen und in meinen Händen. Die anderen hatten leicht reden. Niemand hier konnte es sich vorstellen, wie es war, wenn man kahl wurde.
Meine Haare bedeuteten mir wirklich viel. Ich liebte meine langen Haare. Von klein an begann ich sie wachsen zu lassen. Sie waren ein Teil von mir. Haare sind nun mal ein Symbol für Gesundheit und Schönheit, vor allem bei Frauen. Sie sind ein Teil der Persönlichkeit und haben direkten Einfluss auf das Selbstbewusstsein. Auf das Selbstwertgefühl. Sie können definieren, wer man ist.
Und meine wurden immer weniger. Mit den Haaren auch das Ich ...
Länger war ich nicht imstande den Verlust mit anzusehen. Es blieben nur Federn auf meinem Kopf. Schlussendlich nahm ich mir den Haarschneider meines Vaters und rasierte alles radikal ab. Sie waren alle weg. Ich hatte eine Glatze.
Stundenlang starrte ich auf mein Spiegelbild. Ich sah mir das Ich an, welches vor mir stand. Eine leere Hülle meines Selbst. Kreidebleich, starke Ringe unter den Augen. Ich wurde Tag für Tag merkbar dünner. Narben, von den vielen
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