Bring mich heim
ihren Blick ab, sah zu unseren Händen. »Samuel, ich wollte wirklich nicht mehr.« Mia krempelte den linken Ärmel auf. Eine zartrosa Narbe verlief beinahe über die gesamte Länge des Unterarmes. Dezente ausgeblichene kleine Schnitte daneben. Mia starrte darauf. Für eine Weile war sie in ihren Gedanken verloren. Ich wusste nicht, ob ich etwas dazu sagen sollte. Ich wusste doch nicht mal, was ich hätte sagen sollen. Leise sprach sie weiter: »Verurteile mich nicht.«
»Glaube mir. Das würde ich nie machen.« Sie musste einen Grund dafür gehabt haben. »Lange Zeit dachte ich darüber nach, ob es nicht besser gewesen wäre, wenn ich nie davon gewusst hätte. Und einfach ... einfach eines Tages nicht mehr da wäre. So hätte ich mir einiges erspart.« Im ersten Moment verstand ich nicht, was sie mir damit sagen wollte.
»Weiß du, wie es sich anfühlt, wenn man sterben möchte.« Sie schloss die Augen. Blies Luft aus ihrer Nase. »Nein, wie auch.« Mia schüttelte ihren Kopf. Ich hatte die Befürchtung, wenn ich sie hier unterbrach, würde sie mir nichts mehr erzählen. Obwohl ich ziemlich planlos war, wo ich das Gesagte einordnen sollte. Also sagte ich nichts. »Ich hatte ständige Schmerzen. Ich war den einen Tag gesund und am nächsten krank.« Mia atmete tief ein. » Jeder Tag ist von heute an ein neuer Tag, den meistern Sie. Dann kommt ein neuer. Es geht hier nicht mehr um langfristige Pläne. Ich höre diese Sätze noch immer in meinem Kopf nachhallen.« Mias Fingernägel krallten sich in meine Haut. »Die Prognose sah scheiße aus. Wie soll man so etwas verkraften. Alles lief in meine Richtung. Klappe zu und aus. Aus mit unbeschwert leben. Aber wie soll man jeden Tag neu leben, wenn man nicht möchte.« Ihre Stimme klang frustriert. Tränen flossen an ihr herab. Sie versuchte sich zu sammeln. »Dr. Weiß zeigte mir, dass es irgendwie funktioniert. Ich blieb für meine Familie. Wollte ihnen nicht noch mehr Schmerz zufügen.«
Noch immer wusste ich nicht, was genau mit ihr los war. Nur, dass es ihr absolut nicht gut ging. Endlich sah sie zu mir hoch. Unsere Augen verfingen sich. »Hautkrebs lautete die Diagnose«, flüsterte sie. Dieser Satz gab mir einen Stich mitten ins Herz. Es war noch nicht lange her, da las ich von jemandem dasselbe. Nur war es da schon zu spät. Warum auch Mia? Sie war so jung.
Zu den Fingern sehend murmelte sie: »Ich bekam volles Programm. Nach der OP kam Chemo. Selbstverständlich mit allen Nebenwirkungen, welche mir als nur möglich beschrieben wurden.« Sie sah wieder hoch. »Ich wollte mich so nicht mehr, Samuel. Ich sah den Sinn nicht dahinter, dass mir das passieren musste. Ich dachte alles, was im Leben geschah, hatte irgendeinen Nutzen. Worin liegt der Nutzen im Kranksein? Sag es mir«, seufzte sie.
»Wir wären uns sonst nie begegnet«, antwortete ich.
Ein kleines Lächeln entkam ihr. »Ja, wir wären uns vermutlich nie begegnet. Aber ich wäre auch nie in so ein Loch gefallen. Seit über einem Jahr kämpfe ich mit mir. Damit ich mein Leben wieder auf die Reihe bekomme. Es sind alles nur minimale Fortschritte ... Ich habe Angst vor diversesten Situationen. Berührungen, Erinnerungen ... Dann diese Träume. Ich kann mich nie daran erinnern. Ich fühle mich hinterher nur beschissen.«
»Du kommst voran. Das zählt doch. Du hältst meine Hand.« Sie nickte, während weitere Tränen ihre Wangen herabkullerten. »Und du bist gesund?« Ihre Augen wendeten sich von meinen ab. Sie sah zur Decke hoch und versuchte das Weinen zu unterdrücken. Kaute an ihrer Lippe und sah zu mir. Danach nickte sie. Zuversichtlich drückte ich ihre Hand. Ein kleines Lächeln entkam ihr.
Die Sonne schien durch die Fenster und das Wetter wäre verlockend gewesen, um einfach nur durch die Gassen zu spazieren. Oder am Strand zu sitzen. Jedoch war uns nicht danach. Viel lieber verbrachten wir den restlichen Tag im Zimmer. Ließen uns Essen liefern, sahen fern.
Später erzählte mir Mia noch mehr aus ihrem Leben. Ich war froh, dass sie sich so wohl bei mir fühlte. Mir all das anvertraute. Ich wollte ihr kein Mitleid geben, das wollte sie selbst nicht. Aber ich wusste auch nicht, wie ich sonst auf das Gesagte reagieren sollte. Ich hätte sie gerne umarmt und nie wieder losgelassen. Mia hatte es dringend nötig. Nur hätte sie mich vermutlich weggestoßen. Sie sollte nicht gedrängt werden.
Ich konnte nicht verstehen, wie sich Menschen, die einem lieb waren, abwandten. Wie ein Mensch derart hart sein
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