Bring mich heim
verbringen. Sie tat mir gut. Größtenteils vergaß ich Dinge, an die ich nicht denken wollte.
Diese zwei Tage in Marseille verbrachten wir mit gehen. Viel gehen. Mia schleppte mich von einer Gasse zur nächsten. Sie hatte kein besonderes Ziel in Sicht. Es wirkte so, als ob sie nach versteckten Plätzen suchte. Fern vom Getümmel. Sie ging von einer verwinkelten Minigasse zur anderen. Sie strahlte unentwegt. Und hielt die gesamte Zeit meine Hand fest. Wenn sie etwas sah, das sie mir unbedingt zeigen musste, drückte sie zu, deutete wo hin. Ihre Augen funkelten. Es war schön, sie so glücklich zu sehen. Es war ansteckend. Nicht nur das. Ihr Lachen brachte mein Herz zum Rasen. Die ersten Tage hätte ich mir nicht gedacht, dass sie derart glücklich sein würde. Aber ihre Fassade schien nach und nach zu bröckeln. Sie ließ immer mehr Kontakt zu. Ich gierte nach diesen Berührungen. Wollte am liebsten noch mehr. Sobald auch nur ihr kleiner Finger meine Haut streifte, spürte ich eine Spannung durch meinen Körper fließen. Meine Muskeln spannten sich an. Ich musste mich konzentrieren, damit ich mich nicht sofort auf sie stürzte. Denn ich wusste, dass sie diese Zeit benötigte.
Im Zug nach Toulouse kritzelte Mia während der gesamten Fahrt in ihrem Heft. Auf ihrer Stirn bildeten sich minimale Falten. Sie zeichnete sehr angestrengt. Radierte herum. Nahm wieder ihren Stift und malte weiter. Nur, sobald ich auch nur versuchte einen Blick zu erhaschen, drückte sie das Buch fest gegen ihren Brustkorb.
»Ein kleiner Einblick?«
»Noch nicht«, war ihre Antwort. Also spielte ich weiter auf meiner Gitarre.
»Verdammt. Ich möchte jetzt nicht gestört werden«, murmelte Mia vor sich hin. Sie kramte in ihrer Tasche und drehte ihr Handy auf lautlos.
»Mama?«, fragte ich.
»Ja.« Sie wirkte genervt und gestresst über diese Anrufe. Mit einer Hand rieb sie sich ihre Schläfe. Seit dem ersten Anruf klingelte ihr Telefon alle paar Stunden. Doch sie hob niemals ab. Jedes Mal jemand aus ihrer Familie.
»Darf ich fragen, warum du nicht abheben möchtest?« Es machte mich stutzig. Vor allem, weil sie mir erzählt hatte, was ihre Familie für sie bedeutete.
»Dürfen schon, nur gibt es keine richtige Antwort darauf.« Sie seufzte leise vor sich hin. »Weißt du, ich klebte an meinen Eltern. Und bin ihnen unsagbar dankbar. Für die Unterstützung. Dass sie mich aufgenommen haben. Aber ich muss jetzt von ihnen loslassen.« Seufzend fügte sie hinzu: »Vor allem sie von mir.«
Mit einem Blick aus Verzweiflung und etwas anderem, das ich nicht deuten konnte, sah sie auf ihr wieder läutendes Handy. Sie lehnte ihren Kopf an der Lehne an. Schloss die Augen und hob schließlich ab.
»Christoph?« Ich lauschte. Doch das Gespräch schien ziemlich einseitig zu sein. Mia sagte nicht viel.
»Ja, es geht mir gut. Wirklich gut. Kurz schaute sie in meine Richtung und lief rot an. »Wirklich gut«, sagte sie. Dieses Mal etwas leiser, mit strahlenden Augen.
»Nein, Christoph, möchte ich nicht. Ich hätte es mir denken können, dass sie mit dir sprechen. Was wollten sie?« Mia fasste sich an ihre Schläfe. Sie ballte ihre Fäuste. Die Knöchel traten weiß hervor.
»Chris, bitte. Nein ... nein. Es gibt nichts zu besprechen.« Sie seufzte. »Ganz bestimmt.« Und legte auf. Den Kopf stützte sie in ihre Hände. Ellenbogen auf den Knien abgestützt. Ich setzte mich neben sie. Behutsam griff ich um ihre Schulter. Mia zuckte zusammen und sah erschrocken zu mir. Doch als sie mir in die Augen sah, lockerte sie sich und lehnte sich fest gegen mich. Ich wusste nicht, wer Christoph war oder was er wollte. Mia hatte ihn nie erwähnt. Jedoch wühlte er etwas in ihr auf. Sie erinnerte mich nach diesem Gespräch an die Mia wie im Zug nach Budapest. Verängstigt und aufgewühlt.
Die restliche Fahrt schwieg sie. Sie hatte sich ihre Kopfhörer geschnappt und versank im Sitz. Nicht mehr gegen mich. Sie sprach nicht mit mir. Sah mir auch nicht in die Augen. Mia biss an ihren Fingernägeln. Zupfte an der Nagelhaut, bis ich sah, wie kleine Blutstropfen daraus kamen. Ich wollte sie stoppen, indem ich ihr meine Hand reichte. Nur zuckte sie weg. Ihre Mauer fuhr hoch.
Im Hotelzimmer warf sie ihren Rucksack in eine Ecke und legte sich auf das Bett. Zusammengekauert. Ich wusste nicht, wie ich ihr helfen konnte. Bei jedem Versuch, mit ihr zu sprechen, wurde ich abgewürgt. Bei jedem Versuch, sie zu berühren, bekam ich einen giftigen Blick. Aber es musste eine
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