Bring mich heim
Warum ich es nicht tat, wusste ich nicht. Vielleicht wollte ich sehen, dass jemand von daheim anrief. Vielleicht wollte ich wissen, dass sie doch an mich dachten. Vielleicht wäre ich irgendwann dazu bereit gewesen abzuheben.
Vielleicht ...
Samuel versuchte mich dazu zu drängen, ihnen doch ein Lebenszeichen zu geben. Und wenn es nur in Form einer SMS war.
»Mia«, seufzte er, als wir gerade in Bordeaux zu Mittag aßen. »Sei nicht so stur. Sie wollen dir mit Sicherheit etwas sagen. Egal, was zwischen euch vorgefallen ist. Schieb es zur Seite und rede mit ihnen.«
Ich fühlte diesen unangenehmen Kloß in meinem Hals. Es war mir nicht möglich weiterzuessen. Das Besteck legte ich weg. Mit meiner linken Hand fuhr ich mir über das Gesicht und die Haare. »Ich kann mit ihnen nicht reden, Samuel. Glaub mir. Es ...« Ich musste kräftig schlucken. »Es würde sie ... ich weiß es nicht. Kränken? Oder sie würden ausrasten.«
Samuel legte seine Hand auf meine. »Was ist es, das du nicht sagen möchtest?«
»Vermutlich haben sie herausgefunden, dass ich nicht mehr zurückkomme. Ich ... ich will einfach nicht mehr. Ich muss mir einen neuen Platz suchen.« Samuel drückte zuversichtlich meine Hand. Er schien zu wissen, was ich meinte. Schließlich war er ebenso von daheim weg, um vor seinem Alltag zu fliehen. Nicht nur ich war auf der Suche nach Veränderung.
»Auch, wenn du nicht mehr zurück kannst oder willst ... rede mit ihnen.«
Ja, vielleicht. Noch war ich nicht bereit dazu.
Unsere Reise brachte uns immer nördlicher. Je höher wir kamen, umso nachdenklicher wirkte Samuel.
»Alles okay mit dir?«, fragte ich, als wir gerade vor dem Schloss in Nantes standen. Er zog mich enger zu sich und gab mir einen Kuss auf die Stirn.
»Jap, alles gut. Ich habe nur nachgedacht, wohin wir weiter fahren sollten. Und wann.«
»Jetzt sind wir doch erst hergekommen. Zumindest einen Tag möchte ich bleiben. Ich meine, sieh dir das hier an.« Ich deutete zu dem Schloss. »Das muss für dich noch faszinierender sein als für mich.«
Samuel packte mich an den Hüften. »Im Moment seh ich nur eines, was faszinierend ist. Oder jemand.« Er beugte sich herab und küsste mich leidenschaftlich. Ich musste mich an seinen Schultern festhalten. Bei jedem Kuss wurden meine Knie weicher. Dieses Gefühl der Leichtigkeit begann stärker zu werden. Bei jeder Berührung wollte ich mehr. Meine Emotionen fingen sich zu verstricken an. Zu sehr. Ich mochte diesen Mann wirklich. Zu sehr ... Ich hatte Angst, dass sie mich erdrückten.
Kapitel 45 1/2
Mia – Lassen Sie los
Graz, Oktober 2011
»Lassen Sie los«, befahl Dr. Weiß. Aber nein, das konnte ich nicht zulassen. Es musste alles fest verschlossen bleiben. Es würde nur meinen Zusammenbruch bedeuten. Ich schwor mir nach diesem Gefühlschaos im August, dass ich es nie wieder zulassen würde, jemanden so nahe an mich ran zu lassen. Nie wieder ...
Weder meine Familie, geschweige denn ein Mann. Und dennoch wollten alle in meine Welt eintauchen.
Wir wollen ja nur helfen, Mia. Niemand konnte das.
»Mia, es ist erlaubt zu weinen. Es ist erlaubt zu fühlen. Zorn, Wut, Trauer ... Lassen Sie alles heraus. Es wird Sie auffressen. Irgendwann können Sie Ihre Fassade nicht mehr halten. Sie beginnt zu bröckeln.«
»Nein, Dr. Weiß, das wird sie nicht. Es wird niemand durchkommen. Auch Sie nicht«, fuhr ich ihn an.
»Vielleicht schaffe ich es nicht. Das kann ich noch nicht sagen, dazu kenne ich Sie zu wenig. Jedoch, Sie werden sehen, es wird einen Moment in Ihrem Leben geben, wo es passiert. Sie werden es nicht merken.«
»Und dann?« Meine Arme verschränkte ich vor dem Körper. Ich wollte nicht darüber sprechen. Es würde nie geschehen.
»Und dann werden Sie fühlen«, sagte er schlicht.
»Ich habe genug in diesem Leben gefühlt. Dinge, die niemand fühlen will.«
Dr. Weiß seufzte laut. Er griff sich mit der Hand an das Kinn. »Wie zeige ich Ihnen, dass es vollkommen in Ordnung ist?«, murmelte er vor sich hin. Mehr für sich, als für meine Ohren bestimmt.
»Es wird ein Tag kommen, wo sich alles ändert. Sie können es nicht aufhalten. Probieren Sie, es erst gar nicht aufzuhalten. Seien Sie egoistisch und lassen den Gefühlen freien Lauf. Sie brauchen es. Sie wollen es. Egal wie lange ... Lassen Sie es zu«, ermutigte er mich.
Ich wollte das nicht hören und schloss meine Augen.
»So erdrücken Sie sie. Geben Sie ihnen Freiheit. Dann werden Sie auch nicht erdrückt.«
Kapitel 46
Mia
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