Britannien-Zyklus 01 - Die Herrin vom See
schon in einer Welt haben, in der Priesterinnen allmählich ebenso in das Reich der Legenden entwichen wie die Götter, denen sie dienten? Wenn Menschen sie verehrten, dann nur deshalb, weil sie die Tochter eines großen Fürsten und die Gemahlin eines anderen war.
Und doch spürte Igraine, während sie sich einen Weg den Hügel hinauf bahnten, wie die Zeit sich zurückdrehte. Auch ihre Mutter schien umso jünger zu werden, je näher sie dem See kamen. Ambros hingegen verhielt sich zunehmend merkwürdig, als schälte sich die dünne Hülle der Zivilisation, die er sich am Hof des Vor-Tigernus angeeignet hatte, und legte ein älteres, elementareres Geschöpf frei, das darunter lebte. Er sprach immer weniger und sah sich immer häufiger um, und wenn sie innehielten, um die Pferde rasten zu lassen, stieg er ab und begab sich mit einer so fremdartigen Anmut zum Rand des Waldes, dass sie halb erwartete, er würde jeden Augenblick in einem Baum verschwinden.
Am vierten Tag der Reise erreichten sie die Kuppe des Passes. Von dort aus konnten sie hinabblicken in das Tal, dessen Mitte der blaue See mit seinen baumgesäumten Inseln bildete.
»Da liegt die Heilige Insel.« Igraine deutete auf das größte Eiland, das sich nahe des Ostufers befand. Hie und da blitzte der goldene Schimmer von Rieddächern zwischen den Bäumen hervor; der lange Speisesaal, die Rundhäuser, in denen die Priesterinnen wohnten, und, ein wenig abseits von den übrigen Gebäuden, das Haus des Schwertes. »Bei Anbruch der Nacht sind wir dort.«
»Da bin ich aber froh«, erwiderte Ambros kurz angebunden. »Diese Wildnis flößt mir Angst ein.«
Igraine blickte ihn überrascht an.
»Nicht vor den Bergen«, fügte er hinzu, »sondern vor mir selbst. Wenn ich diese Hügel betrachte, erscheint mir der große Seher und weise Berater von Vitalinus als kriechendes Insekt, das ein einziges Zittern der Erde auszulöschen vermöchte. Und wenn ich nicht der Magier des Vor-Tigernus bin, was bin ich dann? «
Sie nickte. »Ich habe diese seltsame Veränderung in Euch gespürt. Bei mir verhält es sich anders. Erst hier erlange ich Macht.«
Er musterte sie nachdenklich. »Weil Ihr eine Frau seid, frage ich mich, oder weil – « Ambros führte den Gedanken nicht zu Ende, sondern wandte sich ab, um auf die Insel der Maiden hinabzuschauen, als könnte sie ihm die Antwort geben.
Sobald Ambros durch die Tür trat, spürte er die Macht. Er sah sich im Haus des Schwertes um, während seine Nackenhaare sich ob des wachsenden Gefühls aufrichteten, dass etwas, das geduldig gewartet hatte, nun erwachte. Licht zuckte wirr über den Boden, als Igraine Fackeln in Wandhalter steckte. Die Vorhänge, die den Altar verhüllten, leuchteten unvermittelt scharlachrot auf. Er ertappte sich dabei, dass er Igraine beobachtete, wie er es bereits tat, seit er in den Norden gekommen war: ein hastiger Blick, rasch abgewandt, damit sie ihn nicht bemerkte. Fühlte er sich zu ihr hingezogen, weil sie eine Frau von selbem Blut war, oder gab es einen anderen Grund, den zu begreifen er noch nicht bereit war?
Er hörte, wie Argante behutsam die Luft einsog, dann zog sie den Vorhang vom Schwert und murmelte rituelle Worte, um den Geist zu begrüßen, der darin lebte.
Die Klinge steckte aufrecht in einem Steinblock. Etwa die halbe Länge ragte daraus hervor; die Oberfläche des polierten Metalls, das in all den Jahren weder abgestumpft noch gerostet war, schimmerte rötlich im Licht der Flammen. Ambros verwendete zwar keine Waffen, aber er hatte gelernt, sie zu beurteilen. Die Parierstange war schlicht, der Griff hingegen mit Golddraht umwunden. Das Schwert wirkte robust genug, um einem Krieger zu dienen, zudem besaß es die schlichte Eleganz, um eines Königs würdig zu sein.
»Die Gebete bringe ich euch später bei«, erklärte die Priesterin. »Heute Nacht werde ich euch lediglich vorstellen…« Sie hob den Käfig mit dem Gockel. »Das Opfer aber musst du darbringen. Tochter, du musst ihm helfen.«
Igraine biss sich vor Anspannung auf die Lippe, während sie den Vogel aus dem Käfig holte. Ambros blickte verwirrt zwischen ihr und ihrer Mutter hin und her.
»Was denn, hast du noch nie ein Hühnchen für den Suppentopf getötet?« Argante lachte. »Tja, dann wird es ohnehin Zeit, dass du es lernst.«
Verunsichert blinzelte er. Da er am Tisch des Königs zu speisen pflegte, hatte er noch nie zuvor etwas getötet, doch das konnte er keinesfalls zugeben, solange ihn die Frauen derart
Weitere Kostenlose Bücher