Britannien-Zyklus 02 - Die Herrin der Raben
vor Tränen. Doch sobald er wach war, konnte er nicht mehr weinen, obwohl seine Kehle vor Gram schmerzte.
Erst als es zu dunkel wurde, um den Pfosten noch zu erkennen, gab Oesc auf. Aus dem Inneren der Halle hörte er Stimmen, der Hof jedoch lag verwaist da. Über der Mauer funkelten die ersten Sterne am tiefblauen Himmel. Ein Vogel flog schreiend auf die Bäume zu, dann kehrte wieder Stille ein. Nun, nachdem er aufgehört hatte, sich rastlos zu bewegen, zerrte Erschöpfung an Rücken und Schultern. Während auf seiner Haut kalter Schweiß trocknete, wankte Oesc auf die Halle zu.
Nach der frostigen Luft draußen genoss er die Wärme. Als ihm der Duft von gekochtem Rindfleisch in die Nase stieg und sein Magen knurrte, merkte er, dass er hungrig war.
Sein Großvater hatte sich bereits auf dem Hochsessel niedergelassen und die langen Beine dem Feuer zugestreckt. Sein hagerer Leib wirkte beeindruckend wie die Ruine eines römischen Turms. Einst hatte Hengest gekämpft, um sich ganz Britannien Untertan zu machen, nun jedoch gab er sich damit zufrieden, jenen Winkel zu halten, den ihm der Vor-Tigernus geschenkt hatte. Und den sein Sohn nun niemals erben würde.
Zu seinen Füßen saß Andulf, der fahrende Sänger, der mit geneigtem Haupt die Harfe stimmte. Der Feuerschein spiegelte sich in den silbrigen Strähnen, die sein braunes Haar durchzogen.
Als Oesc sich näherte, richtete der Barde sich auf, und das Raunen der Unterhaltungen im Saal verstummte. Einmal und dann noch einmal schlug er die Saiten an und begann zu singen, und seine Stimme klang süß wie Honig und feurig wie Met.
Hört! Ermanarich, der Amaler größter,
Der Goten König, reich an Tatenruhm,
Focht’ manchen Feind, sein Volk zu wahren.
Land und Leben ließ er den Hunnen…
Hengest gab Oesc ein Zeichen, woraufhin der Junge sich zu ihm auf die breite Bank gesellte. Es dauerte nicht lange, bis ihm einer der Leibeigenen eine Holzschüssel, gefüllt mit vorzüglichem Eintopf, brachte, den Oesc sogleich verschlang. Die erste Schüssel stillte gerade seinen Heißhunger. Er ließ sie nachfüllen, und nun fühlte er sich in der Lage, der Geschichte voller Süße und Bitterkeit über den großen König zu lauschen, der die Goten vor einem Jahrhundert geführt und ein Weltreich geschaffen hatte, das er durch den Einmarsch der Hunnen wieder verlor. Vom Pontus Euxinus bis zum Germanischen Meer und vom Fluss Wistla bis zu den weiten Steppen hatte er geherrscht und dabei Stämme besiegt, deren Namen zu Legenden verblasst waren. Er hatte Alarich bezwungen, jenen König der Heruler, der nördlich der Maeotis ein Reich geschaffen hatte, und er beherrschte die Handelsstraßen in die westlichen Länder.
Von Ermanarich sprach man als dem mächtigsten unter seinen Kriegern, und er war ein Mann mit aufbrausendem Gemüt gewesen. Die junge Gattin eines Häuptlings, der ihm die Treue brach, ließ er zwischen vier wilde Hengste binden und in Stücke reißen. Ihre Brüder trachteten danach, sie zu rächen und spalteten die gotischen Kräfte just zu einer Zeit, wo Einigkeit von Not gewesen wäre. Und so waren die Hunnen über sie hinweggefegt. Die überlebenden Goten flohen nach Westen, einige über den Fluss Danuvius, um in Roms Dienste zu treten, andere bis nach Iberien, wo sie nun herrschten.
Treulose traf seiner Taten Grimm,
Ruchlos gerächt durch Verräters Sippe,
Umarmte er im Alter sein Ende,
Auf dass sein Blut die Erde segnete…
Letzten Endes, so erzählte die Geschichte, nahm Ermanarich sich das Leben, weil er durch das Opfer seines eigenen Blutes die Götter besänftigen wollte.
»Es heißt, man soll den Tag nicht vor dem Abend loben«, meinte Hengest, nachdem der Klang der Harfe verhallt war und Stille eintrat. »Ich glaube, dasselbe gilt für einen König. Er hat sein Weltreich verloren, aber vielleicht hat sein Blut seinem Volk Schutz beschert, denn es ist in dem neuen Land zu neuer Blüte gekommen. Wenigstens war sein Tod nicht ohne Sinn…«
»Dasselbe hat König Gundohar gesagt«, erwiderte der fahrende Sänger.
»Ihr habt ihn gekannt?«, rief Oesc aus. Er wusste wohl, dass der Mann aus Burgund stammte, wenngleich der Barde seinen Akzent durch die langen Jahre der Wanderschaft weitgehend verloren hatte, doch er war überrascht darüber, dass jemand, der der königlichen Sippe nahe stand, den Angriff der Hunnen vor einem Vierteljahrhundert überlebt hatte.
»Er brachte mir bei, die Harfe zu spielen«, erklärte Andulf, dessen Stimme
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