Britannien-Zyklus 02 - Die Herrin der Raben
gelauscht, deren Gebeine hier begraben liegen.«
Sie schauderte leicht, als sie sich an die Stimmen in der windgepeitschten Dunkelheit erinnerte. Weil ihr Knie nach jener nächtlichen Sitzung steif geworden war, humpelte sie immer noch, doch sie bereute es nicht. Die Römer, vermutete sie, hatten sich nie die Mühe gemacht zu lauschen, sondern die einheimischen Gottheiten einfach mit ihren eigenen Namen bedacht, sie in neue Tempel verbannt und den alten Mächten des Hügels keinerlei Beachtung geschenkt. Sie glaubte, es hatte die uralten Götter gefreut, dass ihnen endlich wieder jemand Aufmerksamkeit gewährte.
»Warum?«
»Um etwas über die Geister dieses Landes zu lernen, damit wir sie ehren und ihren Segen erlangen können. Ich habe an dem Erdwall ein Opfer zurückgelassen, ehe ich ihn verließ. Auch du musst etwas zurücklassen, wenn du im Forst jagen gehst.«
Oesc ergriff eine der Lampen aus einer Nische, hockte sich nieder und hielt die Flamme dicht an das Relief, um besser zu sehen.
»Glaubst du, die Frau könnte Frige sein, und die Götter mit den Kapuzen Woden, Willa und Weoh?«
»Nach und nach ersetzt in diesem Land unsere Sprache die der Römer. Ich glaube kaum, dass es die Götter stört, wenn wir ihnen unsere Namen geben«, erwiderte Haedwig und hörte in ihrem Kopf ein leises, billigendes Lachen.
Schweig still, Alter, forderte sie den Gott auf. Mir scheint, du besitzt ohnehin schon zu viele Namen! Lechzt du nach weiteren?
»Aber sind sie das auch wirklich?«
Haedwig schüttelte den Kopf. »Kind, es gibt keinen Namen, den die Zunge eines Menschen aussprechen könnte und der alles bezeichnet. An vielen Orten nennen die Briten ihre Herrin Brigantia. Was mit dem anderen ist, weiß ich nicht. Vielleicht genügen den Göttern die Namen, die wir ihnen geben. Sagen wir einfach, dass es die sind, die sie hier für uns tragen.«
»Ich habe den Jungen hergebracht«, meldete Hengest sich zu Wort, »damit wir unsere Gaben überreichen können.«
Die weise Frau nickte und erhob sich. Sie ergriff die zweite Lampe, ging um den Altar herum und hielt das Licht hoch. Der Schein schimmerte warm auf den verwitterten, grauen Steinen des Brunnenrandes und glitzerte auf dem Wasser darin. Da dieser Ort von Steinmauern umgeben war, wirkte er gänzlich anders als der Teich in den Sümpfen der Myrging-Länder, und doch war die Macht des Wassers beinahe dieselbe.
»Der Schrein wurde um diese Quelle herum errichtet. Aus ihr sprudeln die Wasser, die den Fluss nähren, sie kommen vom Forst und aus den Hügelländern. Sie bergen das Lebensblut der Herrin dieses Landes.«
Mittlerweile hatte auch Hengest sich erhoben. Nun holte er aus seiner Gürtelbörse drei goldene Münzen hervor, die das abgegriffene Bildnis eines längst verstorbenen Kaisers zeigten. Behutsam beugte er sich über den Brunnen.
»Göttin… Frige…«, sprach er mit leiser Stimme. »Ich habe dieses Land mit dem Schwert erobert. Aber die Menschen, die ich hergebracht habe, um hier zu leben, werden es in Liebe und Gerechtigkeit hüten und bestellen. Mein ganzes Leben lang war ich ein Mann des Blutes, nun aber habe ich keine Kraft mehr, den Menschen meinen Willen aufzuzwingen. Lass dieses Land mein Volk ernähren…« Seine Stimme zitterte. »Und lass es mich in Frieden dem Sohn meines Sohnes hinterlassen.«
Während er sprach, erfüllte eine unbestimmte Schwere die Luft im Tempel, als wäre etwas Uraltes und Mächtiges erwacht. Dann platschten die Münzen ins Wasser, und die Spannung zerriss.
Es dauerte eine Weile, ehe der König sich aufrichtete. Schließlich setzte er sich wieder. Seine alten Augen wanderten von Haedwig zu dem Jungen.
Die weise Frau spürte einen Anflug von Mitleid für diesen greisen Krieger, den nunmehr die Kraft verließ; der seine Gefährten überdauert hatte und nun, am Ende seines Lebens, in einem neuen Land nach Rechtfertigung für seine Taten suchte. Kurz wanderte ihre Erinnerung zurück zu Oescs anderem Großvater, Eadguth dem Myrging-König, der seinem Land so verbunden gewesen war, dass er, gleich einer alten Eiche, nicht aus seiner Heimaterde entwurzelt werden konnte.
»Nun ist der Erbe an der Reihe, sein Gelübde abzulegen und seine Opfergabe zu entrichten«, sprach sie laut.
Oesc stellte die Lampe, die er gehalten hatte, auf den Rand des Brunnens, kniete sich daneben und starrte in das Wasser. Die Strömung, die bedächtig aus den Tiefen heraufwallte, brach den Widerschein in einen Goldregen, als brächten Hengests
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