Britannien-Zyklus 02 - Die Herrin der Raben
ich bin schon zufrieden, wenn meine Entscheidungen unsere heißblütigen Stammesleute davon abhalten, einander umzubringen. Das Schicksal beschert jedem Mann das Los, das er verdient, nicht ich.«
Oesc war froh, als sie Durobrivae verließen und weiterreisten. Nun zogen sie südwärts die baumbewachsenen Hänge hinauf, dort wo das Tal des Flusses Meduwege sich durch die nördlichen Hügelländer zog. Von Zeit zu Zeit teilten sich die Bäume und gaben den Blick auf den Fluss darunter frei, der die Wasser aus dem Forst führte, jenem riesigen Wald, welcher den Mittelteil Cantuwares bedeckte.
Als der Tag zu Ende ging, führte sie die Straße in das Tal hinunter, und Oesc erblickte die rotgedeckten Dächer einer Gruppe römischer Gebäude, die auf einer rundlichen Kuppe standen, und dahinter, inmitten der Weiden am Fluss, das Rieddach eines sächsischen Gehöfts. Als sie näher kamen, erkannte er die Bauwerke auf der Kuppe als Tempel und dass der Hof auf den Grundmauern eines römischen Landhauses errichtet worden war. Hier verbreiterte sich der Meduwege und verlief glucksend über die Steine einer Furt.
»Wer wohnt hier?«, fragte er, als sie in den Hof geritten waren.
»Ein Angel namens Aegele, der mit einem der ersten drei Schiffe kam, die mit mir das Meer überquerten. Bei der Schlacht von Rutupiae verlor er ein Bein, und ich habe ihn hier angesiedelt«, erwiderte sein Großvater.
»Und wer lebt dort oben?« Oesc deutete auf ein kleines, rechteckiges Gebäude mit Spitzgiebel und einer überdachten Veranda an allen vier Seiten. Einige Schindeln waren lose, und an manchen Stellen blätterte der weiße Putz von den Steinwänden ab, aber erst kürzlich hatte jemand den Pfad geharkt.
»Ah – das ist der andere Grund, weshalb wir hier Halt machen. Ich bin nicht der Einzige, der an diesem Ort einen Freund finden wird.«
Erst am nächsten Morgen, als sie gemeinsam den Tempelhügel erklommen, sollte Oesc herausfinden, was Hengest damit gemeint hatte.
Sie hörte die beiden den Pfad heraufkommen: die Schritte des alten Mannes schwer und zögernd auf dem Schotter und die Schritte des Jungen leicht und flink. Seine hellen, stürmischen Fragen verstummten jäh, als sie im Schatten des Vordachs innehielten. Ein Luftstoß ließ die Flammen der Lampen aufflackern, und die geschnitzten Augen der hölzernen Gestalten auf dem Altar wirkten mit einem Mal belebt, und ihre Schatten an der Wand wurden länger. Der Knabe blieb in der Tür stehen. Sie schob das Kopftuch zurück und lächelte, und nachdem seine Augen sich an die Düsternis gewöhnt hatten, sah er sie dort sitzen.
»Haedwig!« Die Freude in seinem Gesicht war wie ein weiteres Licht im Raum. »Wie kommst du denn hierher?«
»Wo die Götter sind, da bin auch ich.« Sie wies auf die Bank, die entlang der Wand stand, und der Junge setzte sich. Hengest ließ sich auf der gegenüberliegenden Bank nieder, verharrte mit den von dicken Venen durchzogenen Händen auf dem Griff seines Stocks und beobachtete die beiden. »Ich bin hin und her gereist, habe die heiligen Orte dieses Landes aufgesucht.«
Daran erinnert, wo sie sich befanden, wanderten Oescs Augen unsicher durch die kleine Kammer. Er ist groß geworden, seit ich ihn zuletzt gesehen habe, dachte Haedwig. Mit seinen fünfzehn Jahren wirkte er langgliedrig wie ein Fohlen, die knochigen Schultern aber ließen schon künftige Stärke ahnen, und Charakter zeichnete die Kieferpartie, wo sich der erste Flaum des jungen Mannes zeigte.
»Und wem hat man hier gehuldigt?«
»Das sind die Abbilder der Gottheiten.« Sie deutete auf den Altar.
Das flache hüfthohe Heiligtum, dessen Ränder gerundet und mit Rillen verziert waren, bildete den Baldachin für ein Flachrelief, das eine sitzende Göttin in einem weitärmeligen, in Falten fallenden Gewand und drei stehende Gestalten in Mänteln mit Kapuzen zeigte. Die Göttin hielt etwas in der Hand, womöglich eine Spindel. Unter den Figuren war eine lateinische Inschrift gewesen, doch der Stein war zu verwittert, um die Worte noch zu entziffern.
»Aber wer ist das?«, hakte er nach.
»Auf jeden Fall keine römischen Götter, obwohl sie auf römische Weise dargestellt sind«, antwortete Haedwig bedächtig. »Dies ist ein alter Ort; hier kreuzt der Pfad, der entlang der Hügelländer verläuft, den Fluss. Es gab diesen Ort schon, ehe die Römer, vielleicht sogar ehe die Briten kamen. Ich habe schon einmal die ganze Nacht draußen auf einem Erdwall neben dem Pfad gesessen und jenen
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