Britannien-Zyklus 02 - Die Herrin der Raben
geben, ebenso wenig dafür, was mein Enkel tun wird, nachdem er das Äl auf meinem Begräbnis getrunken hat.«
Er schaute auf, und ein wärmeres Licht kroch in die alten Augen, doch Merlin hatte die Veränderung in der Luft bereits bemerkt, als jemand von draußen hereintrat. Er war noch jung, an der Schwelle vom Knaben zum Mann. Er war hochgewachsen und hatte helles Haar. In seinem Blick spürte Merlin etwas Wachsames, als hätte er bereits gelernt, der Welt nie zu vertrauen.
»Was hoffentlich noch lange dauern wird«, sagte der Junge, Hengests Worte aufnehmend, und setzte sich zu Füßen des Greises.
»Das ist Oesc, Octhas Sohn«, erklärte der König. Merlin aber war bereits die Haltung der Schultern des Jungen aufgefallen, die Ähnlichkeit mit Hengest in der Stirn und Kieferpartie. »Er ist es, der sich mit Artor wird auseinandersetzen müssen, nicht ich.«
»Ja…« Von plötzlich anstürmenden Bildern überrascht, schloss Merlin die Augen – Artor und Oesc Seite an Seite auf einem Hügel, über dem Raben kreisten, bei Festen und beim Jagen, und dann wieder, diesmal älter, im Begriff, einander inmitten des Blutes und der Schrecken eines Schlachtfeldes zu begegnen. Als Feinde oder Verbündete? Und sofern sie gegeneinander kämpften, wer würde den Sieg davontragen? Dieses Wissen blieb ihm verborgen.
Dann verblasste die Vision. Als er wieder aufschaute, redeten Oesc und sein Großvater noch miteinander, die Wicce aber, Haedwig, beobachtete ihn mit besorgter Miene.
»Wenn Ihr unerkannt bleiben wollt«, riet sie ihm, nachdem die Unterredung zu Ende war, »solltet Ihr nun mit mir kommen. Ich werde den Leibeigenen auftragen, Essen für uns beide zu bringen.«
Merlin nickte. Zwar entging ihm dadurch die Gelegenheit, in Erfahrung zu bringen, was die Männer an wissenswerten Gerüchten in der Halle miteinander zu bereden haben könnten, doch er hatte den Eindruck, die Antwort auf seine Frage ohnehin bereits zu kennen. Cantium würde sich ruhig verhalten, aber der Rat sollte von nun an besser ein waches Auge auf die Südsachsen und die Angeln haben. Diese weise Frau hingegen übte großen Einfluss sowohl auf den Greis als auch auf den Jungen aus. Er konnte es sich nicht leisten, das Geheimnis ihrer Person ungelüftet zu lassen.
Als er Haedwigs Haus betrat, spürte er ein Prickeln unter der Haut. Er lächelte ein wenig, als er die Schutzzauber, nunmehr in reiner Form, erkannte, die ihm zuvor in der Halle aufgefallen waren. Flammen züngelten auf, als die Hexe das Feuer schürte, während er sich mit der Neugier eines Zunftgenossen umsah. Seit seinen Studien bei den Weisen des Vor-Tigernus als junger Mann hatte er kaum noch mit anderen Zauberkundigen zu tun gehabt.
Seine Nasenflügel blähten sich ob der vielfältigen Gerüche, die um ihn waren – bald würzig, bald modrig, bald sauer –, und ob der Ströme der Macht, die damit einhergingen. Eine Hexe hatte er sie genannt, und die getrockneten Kräuter, die von den Sparren hingen, die ordentlich auf Ablagen geschichteten Säcke, Körbe und Bündel, bestätigten dies. Was sie sonst noch sein mochte, konnte er noch nicht sagen.
Haedwig schenkte Met aus einem römischen Krug in ein silbergefasstes Trinkhorn. »Keine Angst«, sagte sie, als er einen winzigen Augenblick zögerte, »ich bin nicht so dumm, den Met mit etwas anderem zu belegen als einem Segen auf die Hefe, auf dass sie gäre – selbst wenn ich dächte, so etwas würde Eurer Aufmerksamkeit entgehen.«
»Ich habe nicht an Euch gezweifelt«, entgegnete er steif.
Er trank und genoss die feurige Süße, dann gab er ihr das Trinkhorn zurück und setzte sich auf die Bank am Feuer.
Die Wicce trank ebenfalls und ließ sich ihm gegenüber nieder. Sie war eine Frau, die von der Mitte ihres Lebens bis ins hohe Alter ihr Aussehen wohl kaum verändern mochte, mit ausladenden Brüsten, breiten Hüften und silbrigen Strähnen im Haar – eine ganz und gar gewöhnliche Person, ohne jeden Anspruch auf Schönheit, bis man ihr in die Augen blickte.
Diese Augen hefteten sich nun auf die seinen, mit einem silbrigen Schimmer, der die Tiefen dahinter verschleierte wie Licht auf einem Teich.
»Ihr fragt Hengest, was er mit seinen Kriegern vorhat, als wären sie die einzigen Kriegsmächte dieses Landes. Von einem anderen Gesandten hätte ich das erwartet, nicht aber von Euch. Seid Ihr gekommen, um unsere Verteidigungseinrichtungen auszuspionieren, so wie damals in Verulamium, als Ihr Euch des Körpers dieses Vogels
Weitere Kostenlose Bücher