Britannien-Zyklus 04 - Die Herrin der Insel
bereitete, doch sie hatte sich geweigert, den Spaziergang abzubrechen, und sie beklagte sich nicht. Als sie zu dem langen Stein gelangten, der zu einem groben Sitz gehauen worden war, ließ sie sich seufzend darauf nieder.
Artor stand hinter ihr; eine Hand ruhte sanft auf ihrer knochigen Schulter.
Bäume säumten den See und zogen sich die gerundeten Hänge hinauf, dunkle Massen immergrüner Gewächse, durchsetzt von kahlen Zweigen, an denen gerade das erste Frühlingsgrün spross. An den Apfelbäumen trieben die ersten Knospen, die Zweige rahmten das funkelnde Wasser und die umschattete Hügelkette ein, die den See gleich einem Becher in ihren starken Händen hielt.
Hier traten die Gebeine der Erde klar und deutlich zutage. In den Bergen fand Artor eine immer währende Schönheit, für die das Wechselspiel von Laub und Blüten lediglich ein Beiwerk war – wie bei seiner Mutter, dachte er, deren zarter Knochenbau ungeachtet der leicht runzligen Haut seine Schönheit bewahrte.
»Es ist atemberaubend«, meinte Igraine leise. »Die Erfrischung des Geistes, die dieser Anblick verheißt, ist den beschwerlichen Weg hierher wert.«
»Fast möchte ich dasselbe sagen«, antwortete der König. Den Großteil des Winters hatte er bei Cunobelinus in Trimontium verbracht und miterlebt, wie dieser auf dem Stein am Fuße des Hügels zum König der Votadini gekrönt wurde. Im selben Augenblick, als der Fuß des Häuptlings den Stein berührte, hatte Artor die Erde jubelnd aufschreien gehört.
Von dort war er die Ostküste hinuntergereist. Nun war er froh, dass er beschlossen hatte, dem alten Römerwall nach Westen zur Insel der Maiden zu folgen. Seit ihrer letzten Begegnung war seine Mutter sichtlich hinfälliger geworden.
»Sieh – « Igraine deutete auf die östlichen Hügel. »Dort ist ein Pfad, der zum Kreis der Steine emporführt.«
»Ich habe unterwegs dort angehalten«, sprach Artor und entsann sich des Rings aus Steinen. Einige waren umgestürzt, und die größten ragten gerade brusthoch auf, als forderte die Erde nach und nach eine zerbrochene Krone zurück. »Wie viele sind es? Ich habe sie dreimal gezählt; das Ergebnis war jedes Mal ein anderes.«
»Ah, dieses Geheimnis gehört zu unseren Mysterien.«
Lachend schüttelte Artor den Kopf. »Wirken diese Steine deshalb so – lebendig! Die meisten Steinkreise, die ich gesehen habe, scheinen zu dösen wie ein alter Hund in der Sonne. Die auf dem Hügel hingegen knistern vor Energie.«
»Und woher weißt du das?« Igraine drehte sich um und schaute zu ihm auf.
Artors Blick ruhte auf den Hügeln. »Weil ich den Menschen begegnet bin, die sie errichtet haben. Oder ihren Geistern. Ich wünschte, ich hätte daran gedacht, sie nach dem Grund zu fragen!«
»Erzähl mir davon – « Igraines Stimme veränderte sich, und Artor wusste, dass sie nun als die Herrin vom See sprach. Er ließ sich neben ihr nieder und begann, seine Erlebnisse zu schildern, die ihm in der Nacht unter den uralten Steinen widerfahren waren.
»Und nun«, schloss er seinen Bericht, »fühlt es sich an, als wüchsen mir neue Sinne. Noch ehe ich einen Stein berühre, vermag ich zu sagen, ob er auf natürliche Weise verwittert ist oder von den Alten dieses Landes geformt wurde. Wer war die Königin, die ich sah, und was hatte Ihre Frage zu bedeuten?«
»Ich vermute, sie war eine große Königin der alten Zeiten, dem Land so sehr verbunden, dass sie nach ihrem Tod nicht zu den Inseln der Seligen weiterwanderte, sondern eins wurde mit den Geistern des Landes. Manchen…«, sprach sie zunehmend langsamer, »steht diese Wahl offen. Sie werden Teil der Anderswelt, die gleich einem Schleier über der unseren liegt. An manchen Stellen schlägt der Stoff Falten, und dort berühren die beiden Welten einander.«
»Jenes Grab war einer dieser Orte…«, sprach Artor bedächtig. »Ebenso wie alle Orte, an denen die Alten die Steine bearbeitet haben…«
»Alles hat seinen Ort und seine Zeit – und seinen Preis.«
Artor ertappte sich dabei, dass er den Stein umfasste, auf dem er saß. Die kalte Oberfläche erwärmte sich unter seiner Handfläche. Er spürte ein Beben, als schnurre ein gewaltiges Tier unter seiner Hand; rasch zog er seine Hand zurück.
»Was ist der Preis? Und wo befindet sich der Stein für mich? Der Königsstein der Votadini gehört nur zu jenem Land und jenem Volk. Wo ist der Stein, der mich zum König und Kaiser ausrufen wird?«
Igraine schüttelte den Kopf. »Das ist dein Geheimnis.«
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