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Brodecks Bericht (German Edition)

Brodecks Bericht (German Edition)

Titel: Brodecks Bericht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philippe Claudel
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anders gesagt: Sie machten endlich die Augen auf, es sei, wie es sei. Und was sie sahen, waren sie selbst, nackt und bloß. Sie sahen, wer sie waren und was sie getan hatten. In den Zeichnungen des Anderen sahen sie, was auch Diodème und ich gesehen hatten. Und natürlich ertrugen sie es nicht. Wer hätte das schon ertragen können?
    «Alles wurde verwüstet. Wer damit anfing, habe ich nicht gesehen, aber das ist eigentlich auch unwichtig, weil alle mitmachten und keiner versucht hat, die anderen zurückzuhalten. Der Pfarrer schlief sturzbetrunken unter einem Tisch und nuckelte an einer Ecke seiner Soutane, wie ein Kind am Daumen. Die älteren Männer waren kurz nach dir aufgebrochen und nach Hause gegangen, und Orschwir hat zwar nicht mitgemacht, aber sichtlich zufrieden zugesehen, als Kipofts Sohn sein Porträt ins Feuer warf. Da sah Orschwir richtig froh aus, das kannst du mir glauben! Und dann ging alles sehr schnell, weißt du, ehe man sichs versah, hing kein Bild mehr an den Wänden. Nur Schloss wirkte ein wenig bekümmert.»
    Das alles hat Diodème mir zwei Tage später erzählt. Seit dem besagten Abend hatte es ununterbrochen geregnet. Es war, als hätte der Himmel einen Großputz nötig gehabt oder den Menschen, die dazu selbst nicht mehr in der Lage waren, die schmutzige Wäsche waschen müssen. Die Mauern unserer Häuser sahen aus, als ob sie weinten, und auf den Straßen unterspülten wahre Sturzbäche, braun von der Erde und dem Mist aus den Ställen, das Pflaster und rissen Steinchen, Stroh, Gemüseschalen und Unrat mit sich fort. Es war ein außergewöhnlicher Regen, ein ununterbrochener Guss aus einem Himmel, der nicht mehr zu sehen war, weil eine dichte, schmutzige, nasse Wolkendecke ihn verbarg. Wochenlang hatten wir auf diesen Regen gewartet. Wochenlang hatten das Dorf und seine erschöpften, ausgelaugten Bewohner in der Sonne gebraten, und dann, endlich, kam das Gewitter. Dieser Ausbruch des Himmels war wie eine wütende Entgegnung auf die Gewalt der Männer im Gasthaus Schloss, die ein erbärmliches Massaker an den Bildern angerichtet hatten. Denn es war genau in dem Augenblick, in dem man die Zeichnungen anzündete, dort, wo man später einen Menschen ermorden würde – genau in dem Moment zogen die schweren Wolken auf. Der Himmel spaltete sich in zwei Hälften und kippte einen großen Schwall trübes, dreckiges Wasser aus seinen Eingeweiden über die Erde.
    Endlich setzte Schloss alle Leute, den Bürgermeister inbegriffen, vor die Tür, und die ganze saubere Festgesellschaft purzelte in den Regen auf die Straße. Manche legten sich lang hin und taten zum Spaß, als ob sie in den Pfützen schwimmen würden, schrien wie unbeaufsichtigte Schüler und schmissen einander Matsch wie Schneebälle ins Gesicht.
    Ich stelle mir gerne vor, wie der Andere hinter seinem Fenster stand und das Schauspiel beobachtete. Ich stelle mir vor, wie er lächelt. Der Himmel bedankte sich bei ihm, und das, was er unten sah, diese klatschnassen, kotzenden, schimpfenden menschlichen Wesen, die durcheinander lachten, lallten und pissten, machten seine zerstörten Porträts nur noch wahrer. Für ihn war es eine Art Bestätigung. Der Triumph des Spielleiters.
    Aber hier auf Erden ist es besser, nicht recht zu behalten. Oft muss man das hinterher teuer bezahlen.

35
    Am Tag darauf herrschte Katerstimmung. Der Schädel hämmerte, und man wusste nicht, ob das, woran man sich zu erinnern meinte, wirklich geschehen oder nur ein Traum gewesen war. Ich glaube, dass die meisten der Männer, die in der Nacht über die Stränge geschlagen hatten, sich ziemlich dumm vorkommen mussten – erleichtert zwar, aber auch dumm. Nicht dass sie sich vor dem Anderen geschämt hätten, was ihn betraf, stand ihre Meinung unumstößlich fest. Aber wenn sie daran dachten, dass sie sich auf harmlose Papierfetzen gestürzt hatten, dann erschien ihnen das im Nachhinein nicht besonders männlich.
    Der Regen kam ihnen zupass. So mussten sie nicht aus dem Haus, dem anderen nicht in die Augen sehen, nicht miteinander reden. Nur der Bürgermeister trotzte den Wolkenbrüchen, die wie im April ununterbrochen vom Himmel stürzten. Er verließ am Abend sein Haus und ging auf direktem Wege zum Gasthaus Schloss, wo er bis auf die Haut durchnässt eintraf. Schloss wunderte sich nicht schlecht, als er sah, wie die Tür aufging, die den ganzen Tag über geschlossen geblieben war. Das war ihm übrigens ganz recht gewesen, denn er hatte Stunden gebraucht, um die

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