Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Brodecks Bericht (German Edition)

Brodecks Bericht (German Edition)

Titel: Brodecks Bericht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philippe Claudel
Vom Netzwerk:
paar schlampig angebrachten Brettern, die sich mit den Jahren verschoben haben. Durch die Spalte kann man alles mithören, denn hinter dieser Rückwand ist der kleine Saal. Gerthe hat das herausgefunden, und ich weiß, dass sie an manchen Abenden belauscht hat, was dort geschah und gesprochen wurde, obwohl sie es vor mir nie zugeben wollte, denn sie ahnte wohl, dass ich toben würde.»
    An jenem Tag also hat Schloss sich zum ersten Mal etwas erlaubt, was er sich bis dahin versagt hatte. Warum? Die Menschen treffen Entscheidungen, für die es keine Erklärung gibt, man kann grübeln, wie man will, man findet trotzdem keine Erklärung. Vielleicht hatte Schloss das Gefühl, so könne er sich einmal als Mann erweisen, er könne das Verbot brechen und damit eine Art Prüfung bestehen, er könne die Seite wechseln und endlich tun, was seiner Meinung nach richtig war. Aber vielleicht gab er auch nur einer lang unterdrückten Neugier nach. Wie dem auch sei, er zwängte seinen dicken Bauch zwischen die Besen, Schaufeln, Eimer und alten Staubtücher und presste sein Ohr an die Bretter.
    «Ihr Gespräch war komisch, Brodeck! Sehr seltsam … Zunächst klang es, als ob sie sich gut verstünden und nicht viele Worte machen müssten, weil sie dieselbe Sprache sprächen. Der Bürgermeister fing an und sagte, er sei nicht gekommen, um sich zu entschuldigen, gewiss, was am Vorabend geschehen ist, sei sehr ärgerlich, aber irgendwie auch verständlich. Der Andere gab keinen Mucks von sich.»
    «Unsere Menschen hier sind ein bisschen derb, verstehen Sie», fuhr der Bürgermeister fort. «Aber stellen Sie sich vor, Sie haben eine Wunde und jemand streut Salz hinein. Würden Sie dann nicht auch um sich treten? Waren Ihre Zeichnungen nicht wie das Salz in der Wunde?»
    «Meine Zeichnungen sind ganz und gar unwichtig, denken Sie nicht mehr daran, Herr Bürgermeister», antwortete der Andere . «Hätten Ihre Leute sie nicht zerstört, dann hätte ich es selbst getan …»
    An diesem Punkt unterbrach Schloss seine Erzählung, die er, wie mir schien, auswendig gelernt hatte. «Eins musst du wissen, Brodeck, zwischen ihren Sätzen machten sie lange Pausen. Eine Antwort folgte nicht direkt auf eine Frage, und eine neue Frage nicht auf eine Antwort. Wahrscheinlich schätzten sich die beiden gegenseitig ab. Sie verhielten sich ein bisschen wie zwei Schachspieler, die den anderen beobachten, wie er über seinen nächsten Zug nachdenkt. Verstehst du, was ich meine?»
    Ich nickte unverbindlich. Schloss blickte auf seine verschränkten Hände hinunter und erzählte weiter. Orschwir fragte also:
    «Darf ich Sie fragen, mit welcher Absicht Sie eigentlich zu uns gekommen sind?»
    «Ihr Dorf hatte mein Interesse geweckt.»
    «Aber es ist sehr abgelegen.»
    «Vielleicht genau deshalb. Ich wollte Menschen kennenlernen, die in einem abgelegenen Dorf leben.»
    «Der Krieg war hier genauso verheerend wie anderswo.»
    «Der Krieg wütet und verheert …»
    «Wie bitte?»
    «Nichts, Herr Bürgermeister, das ist nur ein Vers aus einem alten Gedicht.»
    «Der Krieg hat aber nichts mit einem Gedicht zu tun.»
    «Aber, ja …»
    «Ich glaube, Sie sollten wieder abreisen. Vielleicht wissen Sie es nicht, aber Sie rühren an Dinge, die wir lieber vergessen würden, und das führt zu nichts Gutem. Reisen Sie ab, bitte …»
    Was dann folgte, hat Schloss nicht wörtlich behalten, weil Orschwir nicht mehr in kurzen Sätzen sprach, sondern in einer verworrenen Rede gewundenen Gedankengängen folgte und irgendwann scheinbar den Faden verlor. Aber Orschwir ist schlau, er hat sicher nicht aufs Geratewohl weitergeredet, sondern Sätze und Gedanken wohl abgewogen, während er sich unsicher und verwirrt gab.
    «Er war gewitzt», vertraute Schloss mir an, «denn er drohte dem Anderen , ohne die Drohungen wirklich auszusprechen. Er drückte sich vage aus. Und hätte der Andere ihm vorgeworfen, er spreche Drohungen gegen ihn aus, so hätte Orschwir es ganz einfach als Missverständnis abtun können. Ihr Spielchen ging noch eine Weile weiter, aber ich war in dem engen Schrank ganz steif geworden und bekam keine Luft mehr. Meine Ohren summten, mein Kopf fühlte sich an, als surrte ein Bienenschwarm darin herum. Mir steigt oft das Blut in den Kopf und pocht gegen meine Schläfen. Jedenfalls hörte ich noch, wie sie irgendwann aufstanden und zur Tür gingen. Aber bevor sie die Tür öffneten, hat der Bürgermeister noch etwas gesagt, und er hat noch eine letzte Frage gestellt,

Weitere Kostenlose Bücher