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Brodecks Bericht (German Edition)

Brodecks Bericht (German Edition)

Titel: Brodecks Bericht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philippe Claudel
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zornig, und man begeht ein Verbrechen. Deshalb wahrscheinlich müssen die Heiligen immer als Märtyrer enden.

7
    Jetzt muss ich erzählen, wie es war, als der Andere in unser Dorf kam. Aber ich habe Angst – Angst vor den Geistern, die ich wecken werde, und vor den anderen Bewohnern des Dorfes, die zu mir jetzt anders sind als früher. Gestern zum Beispiel hat Fritz Aschenbach, den ich seit zwanzig Jahren kenne, meinen Gruß nicht erwidert, als wir uns auf dem Aufstieg nach Jornetz begegneten. Er kam von seinem Einschlag zurück, ich war unterwegs, um nachzusehen, ob es noch Pfifferlinge gibt. Ich konnte es kaum fassen, blieb stehen, drehte mich um und rief ihm nach: «Aber Fritz, grüßen wir uns nicht mehr?», doch er verlangsamte nicht einmal seinen Schritt, drehte sich nicht um, sondern spuckte nur einmal kräftig zur Seite aus, das war alles. Vielleicht war er so in Gedanken versunken, dass er mich weder gesehen noch gehört hat. Aber welche Gedanken konnten das sein? Was beschäftigte ihn? Ich bin doch nicht verrückt. Schließlich ist auch Diodème gestorben! Noch ein Toter! Und auf welche sonderbare Weise ist er gestorben! Davon werde ich noch erzählen. Seit ich im Lager war, weiß ich, dass es mehr Wölfe gibt als Lämmer.
    Der Andere traf am Nachmittag des 13. Mai bei uns ein, im kommenden Frühjahr wird es ein Jahr her sein. Es war ein milder, goldgelber Tag. Der Abend nahte auf Zehenspitzen, als wollte er nicht stören. Auf den Wiesen um das Dorf herum und auf den höher gelegenen Weiden sah man, so weit das Auge reichte, ein einziges Wogen in Weiß und Gelb, das frische Gras war unter den vielen Dotterblumen kaum zu sehen. Wind ging über das Land hinweg, Wolken zogen eilig nach Westen, drängten sich in das Prätze-Tal und verschwanden schließlich. Auf den Hochweiden hielten sich noch einige Schneefelder, die in den ersten warmen Tagen kleiner werden würden, bis bald nur noch klare, kalte Pfützen davon übrig sein sollten.
    Vielleicht war es fünf Uhr oder halb sechs, als Gunther Beckenfür, der hinter dem Burenkopf das Dach seiner Schäferhütte flickte, auf der Straße von der Grenze her, auf der seit dem Krieg fast keiner mehr geht und keiner mehr gehen will, eine merkwürdige Reisegesellschaft bemerkte.
    «Sie kamen nur unwahrscheinlich langsam vorwärts», sagt er auf meine Frage hin, damit ich mir alles, ich meine tatsächlich alles, was er sagte, in einem Heft notieren kann. Wir sind bei ihm zu Hause. Er hat mir ein Glas Bier eingeschenkt. Ich schreibe, und er kaut auf einer Zigarette herum, die er sich gerade aus einer Mischung aus Tabak und Flechten gedreht hat. Der Qualm riecht nach verbranntem Horn. In einer Ecke des Raums sitzt sein alter Vater, die Mutter ist schon eine ganze Weile tot. Der Alte spricht mit sich selbst, brabbelt vor sich hin. Er hat nur noch zwei oder drei Zähne. Ständig wiegt er seinen zarten Vogelkopf, wie das nickende Engelchen auf dem Sammelkasten in der Kirche. Draußen hat es zu schneien begonnen, blendend weißer Neuschnee, ein Spaß für die Kinder. Mal drängt sich der Schnee dicht vor dem Fenster wie viele hundert neugierige Augen, dann wirbelt er wieder zur Straße zurück.
    «Sie kamen kaum vom Fleck, als ob der gute Mann einen Haufen Granitsteine transportierte. Ich habe sogar meine Arbeit unterbrochen, um sie genau unter die Lupe zu nehmen und sicherzugehen, dass ich nicht träumte, aber nein, ich habe nicht geträumt, ich konnte nur nicht genau erkennen, was ich da sah. Verirrte Tiere, Menschen, die sich verlaufen haben, Händler, die Gott weiß was verhökern wollen? Mindestens ein Mensch war dabei. Ich erinnere mich, dass ich zitterte, richtiggehend fröstelte, aber nicht wegen der Kälte – es war die Erinnerung, die mich frösteln ließ, an den Krieg, als das Unglück und das Leid diese vermaledeite, elende Straße entlanggekommen waren. Und jetzt ging er dort, mit seinen beiden Tieren, ich konnte noch nicht sehen, ob er Kühe oder Pferde bei sich hatte. Ich dachte, der kann doch wohl nur aus dem Land der Fratergekeime kommen, dieser dreckigen, verkommenen Hurensöhne. Erinnerst du dich daran, was sie Cathor angetan haben, diese beschissenen Drecksäcke?»
    Ich nicke. Cathor war Porzellanflicker und außerdem Beckenfürs Schwager gewesen. Als die Fratergekeime bei uns ankamen, wollte er sie hinters Licht führen, aber das ist ihm nicht bekommen. Vielleicht erzähle ich die Geschichte später noch.
    «Jetzt war ich richtig neugierig geworden.

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