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Brodecks Bericht (German Edition)

Brodecks Bericht (German Edition)

Titel: Brodecks Bericht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philippe Claudel
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Ich legte die Schieferplatten und mein Nageleisen weg, rieb mir die Augen, kniff sie etwas zusammen und versuchte, die Gestalt in der Ferne zu erkennen. Er sah aus, als käme er aus einer vergangenen Zeit. Ich konnte es nicht fassen, eine richtige Schießbudenfigur, jedenfalls zieht man sich doch heute nicht mehr so an. Er trappelte mit seinen beiden Zirkustieren die Straße entlang, als wäre er unterwegs zu einer Revue oder zum Puppentheater.»
    Hier bei uns hatten wir schon vor langem alle Pferde geschlachtet und aufgegessen. Und nach Kriegsende kam keiner auf den Gedanken, sich ein neues Pferd anzuschaffen. Wir wollten keine Pferde mehr, sondern lieber Esel und Maultiere, dumme Tiere, die uns Menschen nichts bedeuteten und keine Erinnerungen weckten. Jemand, der ein Pferd bei sich führte – das konnte nur heißen, dass er von weit her kam und nichts wusste von unserem Leid und allem, was hier geschehen war.
    Nicht dass Reiten in unseren Augen altmodisch wäre. Es ist nur so, dass seit dem Krieg hier die Zeit in mancher Hinsicht zurückgedreht wurde. So haben wir die alten Werkzeuge aus den Scheunen geholt und wieder zusammengebaut, was nicht zerstört oder gestohlen worden war, sogar die klapprigen Leiterwagen und windschiefen Kutschen. Wir pflügen mit Pflugscharen, die vor über hundert Jahren geschmiedet wurden, und heuen mit alten Sensen und Rechen. Die Welt hat einen großen Schritt zurück gemacht, es ist, als hätte die Menschheit einen kräftigen Tritt in den Hintern bekommen, sodass wir wieder bei null anfangen müssen.
    Der Andere zockelte langsam die Straße hinunter, sah bald nach links, bald nach rechts, streichelte ab und zu den Hals des Pferdes und sprach wohl mit ihm, denn seine Lippen bewegten sich ununterbrochen. Das andere Tier, ein alter, noch rüstiger Esel mit stämmigen Fesseln, wurde mit einem Strick vom Pferd geführt; er ging mit sicherem Tritt, ohne zu stolpern, und das, obwohl das Tier drei große Koffer auf dem Rücken trug sowie mehrere Taschen, die an beiden Seiten herunterbaumelten wie Zwiebelbündel von einem Deckenbalken in der Küche.
    «Schließlich stand er vor meinem Haus. Ich starrte ihn an, als wäre er ein Geist oder das Teufelchen, von dem mein Vater mir erzählt hatte, als ich noch ein kleiner Junge war und er mir Angst machen wollte. Das Teufelchen, hatte er immer gesagt, haust in den Bauen der Füchse und Maulwürfe. Am liebsten frisst es unartige Kinder und junge Vögel. Der Andere jedenfalls nahm seinen Hut ab, seinen komischen Hut, der wie eine Melone aussah, und grüßte mich feierlich. Dann schickte er sich an, von seinem Pferd zu steigen, ein hübsches, anmutiges Tier mit sauberem, glänzendem Fell. Er ließ sich an seiner Seite hinuntergleiten, schnaufte dabei laut und rieb sich den prallen Bauch. Als er auf dem Boden stand, klopfte er den Staub von seinem Operettenkostüm, eine Art Gehrock aus Samt und Tuch mit allen möglichen Verzierungen und knallroten Borten. Sein Gesicht war rund wie ein Ball, die rote Haut spannte über seinen Wangen. Der Esel ächzte leise, das Pferd nickte wie zur Antwort, und in dem Moment sagte der komische Kauz lächelnd zu mir: ‹Sie leben in einer herrlichen Gegend, wahrlich, in einer herrlichen Gegend …›
    Ich dachte, er macht sich über mich lustig. Seine beiden Tiere standen unbewegt da, als wollten sie höflich sein, und rupften keinen Halm von dem schönen Gras ab, das vor ihren Nasen wuchs. Sie sahen sich von Zeit zu Zeit an, als wechselten sie ein paar Worte miteinander, Tierworte, meine ich. Dann zog er eine kleine Uhr aus der Tasche, wunderte sich offensichtlich, wie spät es schon war, lächelte wieder und sagte, während er mit dem Kinn in Richtung des Dorfes wies: ‹Ich muss da sein, bevor es dunkel wird …›
    Den Namen des Dorfes sagte er nicht, und er wartete meine Antwort gar nicht ab. Er wusste genau, wohin er wollte. Er wusste es. Und das war das Allermerkwürdigste daran: Er hatte sich nicht in den Bergen verirrt, er wollte wirklich zu uns, er hatte alles geplant!»
    Beckenfür verstummt und trinkt sein fünftes Glas Bier in einem Zug leer. Dann starrt er mit stumpfem Gesichtsausdruck auf die Tischplatte, auf der Kerben und Kratzer geheimnisvolle Muster bilden. Der Schnee vor den Fensterscheiben fällt jetzt in geraden und regelmäßigen Bahnen. Wenn es so weitergeht, wird nach dieser Nacht ein ganzer Meter Neuschnee auf den Straßen und Dächern liegen. Und dann sind wir vom Rest der Welt

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