Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Brodecks Bericht (German Edition)

Brodecks Bericht (German Edition)

Titel: Brodecks Bericht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philippe Claudel
Vom Netzwerk:
abgeschnitten, wo wir ja ohnehin schon am Ende der Welt leben. Diese Jahreszeit kann schlimm sein: Die Menschen sind so einsam hier, dass sie in quälendes Grübeln geraten und sich seltsame, wackelige Gedankengebäude zurechtzimmern. An langen Winterabenden werden viele zu seltsamen Baumeistern.

8
    Fest steht, dass der Andere an jenem Frühlingstag mit Beckenfür kurz gesprochen und dabei viel gelächelt hat, dann wieder auf sein Pferd stieg, Beckenfür ohne ein weiteres Wort stehenließ und Richtung Dorf ritt. Beckenfür hat ihm noch so lange nachgesehen, bis er hinter den Kölnke-Felsen verschwand.
    Bevor er aber im Dorf anlangte, muss er noch irgendwo haltgemacht haben. Das ist sicher. Ich habe den zeitlichen Ablauf rekonstruiert, und es gibt eine Lücke zwischen dem Augenblick, als Beckenfür ihn aus den Augen verlor, und seiner Ankunft im Dorf bei Einbruch der Nacht, als der älteste der Dörfer-Brüder ihn sah. Der Junge wollte noch nicht nach Hause, weil sein wieder einmal sturzbetrunkener Vater brüllte, er werde ihm den Bauch aufschlitzen. Dass der Andere erst so spät im Dorf eintraf, ist auch nicht mit dem Umstand zu erklären, dass er sehr langsam ritt. Je mehr ich darüber nachdenke, desto klarer wird mir, dass er am Flussufer neben der Baptisterbrücke haltgemacht haben muss, da wo der Weg eine merkwürdige Serpentine durch eine Wiese beschreibt, deren Gras so weich ist wie die Wange eines Kindes. Eine andere Erklärung gibt es nicht. Von dort aus hat man eine schöne Aussicht, und jemand, der unsere Gegend nicht kennt, wird an diesem Ort meinen, die Landschaft fast mit Händen greifen zu können, wie ein Stück Stoff. Man sieht die Dächer des Dorfes, man hört das Rumoren der Stimmen in der Ferne, und vor allem kann man den Fluss bestaunen.
    Der Staubi ist ein Gewässer, das nicht zu unserer Landschaft passt. Hier würde man einen gemächlichen Fluss erwarten, in dem träge, weiche Algen wie feuchtes Haar schwimmen, einen ruhigen Fluss, der ab und an über die Ufer tritt und sich über die Wiesen mit dem goldköpfigen Hahnenfuß ergießt. Stattdessen haben wir einen reißenden, rauschenden Gebirgsbach, der übermütig Kieselsteine durcheinanderwirbelt, die Felsen abschleift und Schaum und Wasser durch die Luft spritzt. Ein echter kristallklarer Wildbach aus den Bergen, in dem man die grauen Schatten der Forellen herumhuschen sehen kann. Er ist unbezähmbar, und sommers wie winters ist das Wasser so kalt, dass einem das Gehirn erfriert, wenn man hineintaucht. Während des Krieges fand man darin am frühen Morgen manchmal noch andere Lebewesen als Fische, tote, blau angelaufen, immer noch leicht erstaunt blickend oder die Augen fest geschlossen, als wären sie in diesem frischen, kühlen Bett eingeschlafen.
    Ich habe mich gelegentlich mit dem Anderen unterhalten, daher bin ich sicher, dass er sich die Zeit genommen hat, unseren Fluss zu betrachten. Staubi ist ein komischer Name, der nichts bedeutet, auch nicht in unserem Dialekt. Man weiß nicht, woher er kommt, und noch nicht einmal Diodème hat in den vielen Dokumenten, die er durchgearbeitet und gelesen hat, einen Hinweis auf den Ursprung des Namens finden können. Mit den Namen ist es eigenartig. Ständig führt man sie im Munde und weiß doch nichts über sie. Im Grunde ist es wie mit Menschen, denen man jahraus, jahrein begegnet, ohne sie je kennenzulernen, und die eines Tages dann vor unseren Augen etwas tun, was man nie von ihnen erwartet hätte.
    Ich weiß nicht, was der Andere gedacht haben mag, als er das erste Mal die Dächer und Schornsteine unseres Dorfes sah. Er war am Ziel seiner Reise angekommen. Hierher hatte er gewollt und nirgendwo anders hin. Dieser Gedanke war schon Beckenfür gekommen, zu Recht, das haben wir Übrigen später auch verstanden. Jeder Irrtum war ausgeschlossen. Der Andere kam hierher aus freien Stücken, und auch nicht einfach aus einer Laune heraus – er hatte sein Abenteuer vorbereitet, denn er hatte alles mitgebracht, was er brauchte.
    Sogar den Zeitpunkt seiner Ankunft muss er sich vorher überlegt haben. Er kam nämlich zu der Tageszeit, zu der das Licht flach einfällt, wodurch alles ringsum, die Berge über dem Tal, die Wälder und Weiden, die Hausmauern, Giebel, Hecken und auch die Stimmen der Menschen hier noch schöner und erhabener wirken. Eine Tageszeit, zu der es nicht mehr ganz hell ist. Er muss gewusst haben, dass zu dieser Stunde die Ankunft eines Unbekannten in einem Vierhundert-Seelen-Dorf, in

Weitere Kostenlose Bücher