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Brodecks Bericht (German Edition)

Brodecks Bericht (German Edition)

Titel: Brodecks Bericht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philippe Claudel
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dem man schon tagsüber zum Grübeln neigt, einen deutlichen Eindruck hinterlassen würde. Er muss gewusst haben, mit welcher Neugier man ihm begegnen würde. Denn die Angst vor dem Anderen kam erst später, als Fensterläden und Fenster geschlossen waren, das letzte Holzscheit in die Asche gerutscht war und Schweigen sich in den Häusern breitgemacht hatte.
    Mir ist kalt, und meine Fingerspitzen fühlen sich an wie Stein, glatt und steif. Ich sitze im Schuppen des Hauses, zwischen lauter Gerümpel, alten Brettern, Töpfen, Sämereien, Schnüren, durchgesessenen Strohstühlen. Hier stapelt sich der Abfall des Lebens, und dazwischen sitze ich. Allerdings bin ich nicht grundlos hierhergekommen. Ich will versuchen, Ordnung in diese schreckliche Geschichte zu bringen, und dazu muss ich mich von den anderen zurückziehen.
    Hier wohnen wir seit fast zehn Jahren. Wir sind aus der Hütte ins Haus umgezogen, sobald wir es mit dem Geld kaufen konnten, das ich von meinem Gehalt zurückgelegt und Emélia mit ihren Stickereien verdient hatte. Nachdem der Kaufvertrag unterschrieben worden war, hat Rechtsanwalt Knopf mir beide Hände gedrückt: «Jetzt bist du hier wirklich zu Hause, Brodeck. Vergiss nie, ein Haus ist eine Heimat.» Dann hat er zwei Gläser aus dem Schrank genommen, und wir beide haben angestoßen, denn der Verkäufer, Robert Sachs hieß er, trug Monokel und weiße Handschuhe und hatte das Glas, das der Notar ihm reichte, dankend abgelehnt. Er war eigens aus S. gekommen und meinte wohl, er sei etwas Besseres, als lebte er auf einer weißen Wolke, während wir uns im Schmutz suhlen. Das Haus hatte einem seiner Großonkel gehört, den er noch nicht einmal gekannt hatte.
    Die Hütte war uns zur Verfügung gestellt worden, als Fédorine und ich vor nunmehr über dreißig Jahren mit dem Karren ins Dorf gekommen waren. Wir kamen vom anderen Ende der Welt. Unsere Reise hatte viele Wochen gedauert, ein niemals enden wollender Traum. Grenzen und Flüsse hatten wir überquert, wir waren über Brücken und Pässe gegangen, durch Landschaften, Städte, Wälder und Felder. Wie ein kleiner König hatte ich auf dem Karren gesessen und mich an die Bündel geschmiegt, das Kaninchen neben mir, das mich mit seinem sanften Blick unverwandt angesehen hatte. Jeden Tag gab mir Fédorine Brot und Speck zu essen und Äpfel, die sie aus ihren großen blauen Leinentaschen zog, und außerdem flüsterte sie mir Worte ins Ohr, die ich ihr nachsprechen sollte.
    Und dann kamen wir eines Tages in dieses Dorf, das schließlich zu unserem Dorf geworden ist. Fédorine stellte ihren Karren vor der Kirche ab und ließ mich absteigen. Damals hatte man hier noch keine Angst vor Fremden, selbst wenn sie die ärmsten Hungerleider waren. Einige Frauen brachten uns Essen und Trinken. Auch an die Gesichter der Männer erinnere ich mich, die unseren Karren bis zu der Hütte zogen und nicht zuließen, dass Fédorine anpacken musste. Und dann waren da noch der Pfarrer Peiper, der damals noch jung und voller Lebenslust war und noch an das glaubte, was er erzählte, sowie der Bürgermeister, Sibelius Craspach, ein alter Mann mit weißem Schnauzbart und ebensolchem Pferdeschwanz, der einst in der kaiserlichen Armee Sanitätsoffizier gewesen war. Man brachte uns in der Hütte unter und gab uns zu verstehen, dass wir dort die Nacht über und, wenn wir wollten, auch Jahre bleiben durften. In der Hütte gab es einen großen schwarzen Ofen, ein Bett aus Tannenholz, einen Schrank, einen Tisch, drei Stühle und außerdem noch ein weiteres leeres Zimmer. Die Holzwände waren honigfarben, und es war warm. Nachts hörte man manchmal den Wind in den Zweigen der Tannen nahe beim Haus. Das Holz knisterte im Ofen. Ich schlief ein und dachte dabei an Eichhörnchen, Dachse und Drosseln. Es war das Paradies für mich.
    Hier im Schuppen bin ich allein, denn dies ist kein Ort für Frauen, egal ob alt oder jung. Abends werfen Kerzen unwirkliche Schatten. Die Dachbalken knacken. Es kommt mir so vor, als wäre ich weit weg von allem, und ich habe den vielleicht trügerischen Eindruck, dass nichts mich stören und nichts mir zustoßen kann, dass ich hier vor allem und jedem in Sicherheit bin. Dabei wissen alle im Dorf, wo ich bin, und sie beobachten jeden meiner Schritte.
    Die Schreibmaschine habe ich auf Diodèmes Schreibtisch gestellt. Nach seinem Tod hat Orschwir seinen ganzen Besitz, seine sämtlichen Kleider, Möbel und Romane, wegwerfen und verbrennen lassen, und zwar unter dem

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