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Brodecks Bericht (German Edition)

Brodecks Bericht (German Edition)

Titel: Brodecks Bericht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philippe Claudel
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einlud und wo man im Winter Schlittschuh lief, von der großen Bibliothek in der Glockenspielstraße und den Tausenden goldgebundenen Büchern, von der Stüpe-Kantine, wo die dicke Frau Gelicke die Studenten mütterlich versorgte und uns Ragout oder Suppe mit Wurst aus vollen Kellen auf die Teller schöpfte. Wenn ich ihn aber nach den Orten fragte, die ich kannte und liebte, antwortete Kelmar meistens, er sei seit drei Jahren nicht mehr dort gewesen, nämlich seit man ihn und alle anderen, die man mittlerweile Fremde nannte, im alten Teil der Hauptstadt in einem Getto zusammenpferchte.
    Aber in diesem Getto gab es einen Ort, an dem ich oft gewesen war und von dem Kelmar nun auch viel erzählte, einen Ort, der mir so lieb war, dass heute noch mein Herz schneller schlägt, wenn ich daran denke: das kleine Stüpispiel-Theater mit der winzigen Bühne und den vier Sitzreihen. Wahrscheinlich wurden dort die schlechtesten Inszenierungen der Stadt aufgeführt, aber der Eintritt kostete fast nichts, und an kalten Wintertagen war es in dem kleinen Saal warm und gemütlich wie in einem Heuschober.
    Wieder einmal war ich eines Abends in dieses Theater gegangen, mit meinem Studienfreund Uli Rätte, der das Leben genoss und dessen Lachen klang, als purzelten viele kleine Kupfermünzen durcheinander. Er hatte sich in eine Schauspielschülerin verguckt, ein pummeliges, brünettes Mädchen, das eine Nebenrolle in einer verworrenen Farce spielte. Ich döste vor mich hin, als plötzlich zwei Sitze neben mir ein junges Mädchen Platz nahm. Ihre Kleidung war viel zu dünn für die Jahreszeit, weshalb ich sofort wusste, dass sie aus demselben Grund gekommen war wie ich. Sie zitterte und sah dabei aus wie ein kleiner Vogel, wie eine zarte, lebhafte Meise. Ihre blassrosa Lippen lächelten, und sie blies sich in die kleinen Hände, dann drehte sie sich plötzlich zu mir um und sah mich an. In einem alten Lied aus den Bergen heißt es, wenn die Liebe an die Tür klopft, bleibt nur die Tür stehen, und alles andere verschwindet. Während der Aufführung sahen wir uns immer wieder in die Augen, und schließlich, als das Stück vorbei war, erhoben wir uns wie benommen. Erst draußen riss die Kälte uns aus unserem Traum. Ein wenig Schnee fiel auf unsere Schultern. Ich brachte den Mut auf, sie zu fragen, wie sie hieß. Sie sagte mir ihren Namen, und das war für mich das schönste aller Geschenke. In der darauffolgenden Nacht murmelte ich diesen Namen unaufhörlich vor mich hin, sagte ihn wieder und wieder, als könnte ich so dem engelsgleichen Wesen mit den nussbraunen Augen nahe sein: «Emélia, Emélia, Emélia …»
    Kelmar und ich stolperten gleichzeitig aus dem Waggon. Wir rannten und hielten uns die Hände zum Schutz über den Kopf. Die Aufseher brüllten. Einige konnten sogar gleichzeitig brüllen und lachen. Man hätte das Ganze für ein Theaterstück halten können, wären da nicht das klägliche Stöhnen und der Geruch nach echtem Blut gewesen. Kelmar konnte kaum atmen. Sechs Tage lang hatten wir nichts gegessen und kaum getrunken, unsere Gelenke waren steif. Wir rannten, so schnell wir konnten, immer weiter. Erstes blasses Morgenlicht fiel auf die Wiesen um uns herum, obwohl noch keine Sonne am Himmel zu sehen war. Wir liefen an einer großen, krummen Eiche vorbei, deren Blattwerk zum Teil von einem Blitz verbrannt war. Dort blieb Kelmar stehen, ganz plötzlich.
    «Ich gehe nicht weiter, Brodeck.»
    Er sei verrückt, habe ich ihm geantwortet, die Wachen würden kommen, sich auf ihn stürzen und ihn totschlagen.
    «Ich gehe nicht weiter. Ich werde nicht weiterleben können damit …», antwortete er.
    Ich habe versucht, ihn am Ärmel zu fassen und weiter zu ziehen. Als nichts half, zog ich noch fester, bis ich ein Stück seines Hemdes abriss. Die Aufseher, die weiter weg standen, merkten, dass etwas nicht stimmte. Sie blickten in unsere Richtung.
    «Komm, komm schnell», flehte ich ihn an.
    Ruhig setzte sich Kelmar mitten auf die staubige Straße. «Ich gehe nicht weiter», sagte er noch einmal, ganz leise und ruhig, wie jemand, der eine wichtige, schon lange bedachte Entscheidung ausspricht.
    Die Wachen kamen auf uns zu, sie wurden immer schneller und schrien.
    «Kelmar», flüsterte ich, «komm mit, Kelmar, ich flehe dich an!»
    Er sah mich lächelnd an.
    «Wenn du wieder in deiner Heimat bist, wirst du an mich denken, und wenn du den Schluchtenenzian findest, wirst du an den Studenten Moshe Kelmar denken. Und dann wirst du die

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