Brodecks Bericht (German Edition)
Geschichte erzählen, du wirst alles erzählen. Was im Waggon und was an diesem Morgen geschehen ist. Für mich wirst du es erzählen, Brodeck, und für alle anderen …»
Plötzlich spürte ich einen stechenden Schmerz im Kreuz, ein weiterer Schlag traf mich an der Schulter. Die beiden Aufseher brüllten und prügelten auf uns ein. Kelmar schloss die Augen. Ein Wachmann stieß mich vorwärts, schrie mich an, ich solle machen, dass ich weiterkomme. Meine Lippe platzte auf, Blut lief mir in den Mund. Ich rannte weiter und weinte, nicht wegen der Schmerzen, sondern weil ich an Kelmar dachte, der seine Entscheidung getroffen hatte. Das Gebrüll war bald nicht mehr zu hören. Da drehte ich mich noch einmal um. Die beiden Wachleute stürzten sich auf den Studenten. Er wankte und taumelte, und von weitem sah er aus wie ein armer Hampelmann, dem böse Jungen aus Spaß sämtliche Glieder brachen. Plötzlich kam es mir so vor, als erlebte ich die Pürische Nacht noch einmal – der Nacht der Säuberung.
Ich habe den Schluchtenenzian in unseren Bergen nie gefunden, aber einmal habe ich ihn gesehen, in einem kostbaren Buch: eine niedrigwachsende Blume mit dünnem Stängel, deren tiefblaue Blütenblätter aussehen, als wären sie eng zusammengewachsen und als könnten sie sich nie vollständig entfalten. Vielleicht gibt es den Schluchtenenzian ja nirgendwo mehr. Vielleicht hat die Natur entschieden, ihn für alle Zeiten aus ihrem großen Katalog zu nehmen und den Menschen seine Schönheit vorzuenthalten – weil sie ihrer nicht mehr würdig sind.
Der Weg, den ich entlangstolperte, endete vor dem Eingang zum Lager, einem großen, hübsch gearbeiteten schmiedeeisernen Tor, das aussah wie der Eingang zu einem Park oder Ziergarten. Zu beiden Seiten befanden sich zwei Wachposten in rosa und hellgrün gestrichenen Schilderhäusern. Sie standen da in steifer, gerader Haltung, und über dem Portal war ein großer, glänzender Haken angebracht, ähnlich einem Fleischerhaken, der einen ganzen Ochsen tragen kann. Aber an diesem Haken schaukelte ein Mensch; seine Hände waren auf den Rücken gebunden, eine Schlinge lag um seinen Hals, die Augen standen weit offen und traten hervor, die Zunge war dick geschwollen und hing ihm aus dem Mund – er sah aus wie einer von uns. Seine magere Brust zierte ein Schild, auf dem stand in der Sprache der Fratergekeime , die der unseren so ähnlich ist: Ich bin nichts . Die Leiche wiegte sich sacht im Wind. Nicht weit warteten ein paar hungrige Krähen, die später ihre Augen verspeisen würden, als handelte es sich um zwei köstliche Leckerbissen.
Jeden Tag wurde ein Mann am Eingang zum Lager gehenkt. Morgens erwachte jeder Gefangene mit der Angst, heute könnte es ihn treffen. Die Aufseher trieben uns aus den Baracken, wo wir nachts auf dem nackten Boden gelegen hatten, und dann standen wir lange, bei Wind und Wetter, da und warteten, warteten darauf, dass sie einen von uns zum täglichen Opfer erwählten. Manchmal fiel die Entscheidung innerhalb weniger Sekunden. Dann wieder würfelten sie darum oder spielten Karten, und wir mussten in tadellosen Reihen neben ihnen stehen und warten. Die Partien zogen sich endlos hin, und der Gewinner hatte am Ende das Privileg, sich einen auszusuchen. Er schritt die Reihen ab, wir hielten den Atem an, und jeder versuchte, sich unsichtbar zu machen. Der Aufseher ließ sich Zeit, bis er schließlich vor einem Gefangenen stehenblieb, ihn mit der Spitze seines Stocks anstieß und einfach nur sagte: Du . Wir Übriggebliebenen empfanden dann eine verrückte, gemeine Freude, die nicht länger anhalten sollte als bis zum nächsten Tag, bis sich nämlich die Zeremonie wiederholte. Aber für einen Tag gab uns diese Freude die Kraft, noch etwas länger durchzuhalten.
Der Du Genannte folgte seinen Henkern zum Tor. Man befahl ihm, den Gehenkten, der dort noch hing, vom Haken zu nehmen und hinunterzuhieven, ein Grab zu schaufeln und den Leichnam zu begraben. Dann hängten ihm die Aufseher das Schild mit der Aufschrift Ich bin nichts um den Hals, legten ihm die Schlinge um, befahlen ihm, auf den Hocker zu steigen, und warteten auf die Seelenfresserin .
Die Seelenfresserin war die Frau des Lagerleiters. Sie war jung und, das vor allem, unmenschlich schön und außerordentlich blond und blass. Sie ging häufig im Lager spazieren, und es war uns bei Todesstrafe verboten, ihr in die Augen zu blicken.
Nie versäumte die Seelenfresserin die allmorgendliche Hinrichtung. Langsam kam
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