Brodecks Bericht (German Edition)
sie näher, sie sah frisch aus, die Wangen rosig vom klaren Wasser, der Seife und Creme, und manchmal trug der Wind ihr Parfum zu uns herüber. Sie roch nach Glyzinien, daher ertrage ich seither den Duft von Glyzinien nicht mehr. Ich muss mich übergeben oder einfach nur weinen, sobald er mir in die Nase steigt. Die Seelenfresserin war sauber, tadellos frisiert und gekleidet, und wir, die wir da nur wenige Meter von ihr entfernt standen, waren von Ungeziefer zerfressen, in Lumpen, stinkend und schmutzig, die Köpfe rasiert und schorfig, so abgemagert, dass uns fast die Knochen aus der Haut standen. Wir lebten in einer anderen Welt als sie.
Sie kam nicht allein. Immer trug sie ihr Kind im Arm, einen nur wenige Monate alten, in hübsche Wäsche gekleideten Säugling. Sie wiegte ihn sanft, flüsterte ihm etwas ins Ohr oder summte Kinderlieder, deren eines, soweit ich mich erinnere, folgendermaßen ging: «Welt aus Licht, die Menschenhand liegt auf allen Dingen, Welt aus Licht, ach mein Kind, du ruhst so sanft.»
Das Kind weinte während der Hinrichtungen nie. Manchmal schlief es, dann weckte die Seelenfresserin es behutsam und zärtlich, und wenn es die Augen aufschlug, mit Ärmchen und Beinchen strampelte und gähnte, gab sie den Aufsehern mit einer einfachen Kopfbewegung zu verstehen, dass die Zeremonie beginnen konnte. Einer der Aufseher trat gegen den Hocker, der Körper des «Du» stürzte, und im selben Augenblick wurde sein Sturz vom Strang ruckartig gebremst. Der Seelenfresserin entging nicht, wie der Körper zuckte, die Füße ruderten und Halt suchten. Ihr entging nicht das Röcheln, das Gurgeln der Eingeweide, die sich entleerten, und auch nicht die Reglosigkeit und Stille, die folgten. Die Frau drückte einen langen Kuss auf die Stirn ihres Kindes, das manchmal ein wenig wimmerte, wahrscheinlich nicht vor Angst, sondern weil es einfach Hunger hatte und nach der Brust verlangte. Dann ging sie schweigend fort. Die drei Krähen nahmen ihre Plätze ein. Ob es jeden Tag dieselben waren, weiß ich nicht, eine sah aus wie die andere. Auch die Aufseher sahen sich zum Verwechseln ähnlich, aber sie machten sich nichts aus unseren Augen. Sie gaben sich mit unseren Seelen zufrieden. Wie die Frau. Die Frau des Lagerleiters, die wir die Seelenfresserin nannten.
Später habe ich noch oft an ihr Kind denken müssen. Ist es tot, wie seine Mutter? Falls es noch lebt, muss es etwa so alt sein wie meine kleine Poupchette. Was ist wohl aus diesem kleinen Jungen geworden, der die warme Milch aus der Brust seiner Mutter trank und dabei jeden Morgen, monatelang zusah, wie jemand vor seinen Augen gehenkt wurde? Was träumt er und was denkt er, kann er noch lächeln, oder ist er längst verrückt geworden? Hat er alles vergessen, oder sieht er das Schauspiel immer noch vor sich: die Zuckungen der sterbenden Körper, die erstickten Klagelaute, die Tränen, die über graue abgezehrte Wangen liefen, das Kreischen der Vögel?
Im Loch , während meiner ersten Tage im Lager, sprach ich ununterbrochen mit Kelmar, als läge er neben mir. Das Loch war ein fensterloser Kerker, und nur ein wenig Tageslicht drang unter der dicken, eisengepanzerten Tür herein. Wenn ich die Augen aufschlug, sah ich die Mauer vor mir. Ich schloss die Augen und sah Kelmar und hinter ihm, viel weiter weg, Emélia mit ihren weichen, schmalen Schultern und noch weiter in der Ferne Fédorine, die weinte und sacht den Kopf schüttelte.
Ich weiß nicht, wie lange ich in dem Loch war, mit nur diesen drei Gesichtern und der Mauer. Wahrscheinlich sehr lange. Wochen-, vielleicht monatelang. Ohnehin hatten im Lager die Tage, Monate und Jahre ihre Bedeutung verloren. Die Zeit zählte nicht.
Es gab keine Zeit mehr.
10
Ich bin noch immer im Schuppen und kann mich kaum beruhigen, denn vor etwa einer halben Stunde habe ich ein merkwürdiges Geräusch, eine Art Kratzen, in der Nähe der Tür gehört. Ich habe das Tippen unterbrochen und gelauscht. Nichts. Das Geräusch war nicht mehr da. Lange hielt ich den Atem an, denn ich war sicher, etwas gehört zu haben. Und tatsächlich hatte ich nicht geträumt, denn wenig später war es wieder da, jetzt aber nicht mehr an der Tür, sondern etwas schien sich langsam und kriechend an der Wand des Schuppens entlangzubewegen. Ich löschte die Kerze, zog das Papier aus der Maschine, schob es unter mein Hemd und kauerte mich in eine Ecke des Raums hinter die Werkzeuge, neben eine alte Lattenkiste mit Kohl und weißen Rüben. Das
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