Brodecks Bericht (German Edition)
Geräusch war immer noch da, kroch langsam weiter.
Das ging lange so. Manchmal setzte das Geräusch aus und fing dann wieder an. Einmal um den Schuppen herum. Während ich lauschte, wie es mich umkreiste, hatte ich das Gefühl, in einem unsichtbaren Schraubstock gefangen zu sein, den eine ebenso unsichtbare Hand langsam zudrehte.
Das Geräusch hatte einmal die Runde gemacht und war jetzt wieder hinter der Tür. Ich sah, wie die Klinke vollkommen lautlos nach unten gedrückt wurde. Fédorines Märchen fielen mir ein, Märchen mit sprechenden Gegenständen, Schlössern, die in einer Nacht ganze Täler und Berge überqueren, Königinnen, die tausend Jahre lang schlafen, Bäumen, die sich in schöne Prinzen verwandeln, Wurzeln, die sich aus dem Boden erheben, Kehlen umschlingen und sich zuziehen, und Quellen, die Wunden und Kummer heilen können.
Ebenso lautlos hatte die Tür sich einen Spaltbreit geöffnet. Ich versuchte, mich noch kleiner zusammenzukauern und ganz im Dunkel zu verschwinden. Immer noch sah ich nichts. Ich hörte meinen Herzschlag nicht mehr, ja, es war, als ob mein Herz aufgehört hätte zu schlagen und ebenfalls abwartete, was geschehen würde. Da sah ich eine Hand, und die Tür wurde aufgestoßen. Göbblers Hühnerkopf erschien in dem Türspalt. Von der Seite sah er aus wie die Scherenschnitte von Zwergen oder Ungeheuern aus rußgeschwärztem Papier, die die Straßenhändler der Hauptstadt am Rand des Marktes auf dem Albergeplatz verkaufen.
Der Wind, der zur Tür hereinwehte, roch nach überfrorenem Schnee. Göbbler war reglos stehengeblieben und versuchte, in der Dunkelheit etwas zu erkennen. Ich hatte mich nicht bewegt. Ich wusste, dass er mich da, wo ich kauerte, nicht sehen konnte. Ich konnte ihn auch nicht sehen, aber ich konnte ihn riechen, sein Geruch nach Federvieh und Stall war unverkennbar.
«Noch nicht im Bett, Brodeck? Sagst du nichts? Ich weiß, dass du hier bist, ich habe das Licht unter der Tür gesehen, bevor du die Kerze ausgeblasen hast, und ich habe die Schreibmaschine gehört …»
In der Dunkelheit bekam seine Stimme einen sonderbaren Klang.
«Ich passe auf, Brodeck … Nimm dich in Acht.»
Die Tür schloss sich wieder, und Göbblers Silhouette verschwand. Einige Sekunden lang hörte ich noch seine Schritte und sah in Gedanken seine schweren, eingefetteten Lederstiefel vor mir, deren verdreckte Sohlen braune Kotspuren auf der feinen Schneedecke hinterließen.
Ich blieb noch eine ganze Weile bewegungslos in der Ecke sitzen, atmete ganz flach und sprach meinem Herzen gut zu, damit es sich beruhigte. Ich sprach mit ihm wie mit einem scheuen Tier.
Draußen wehte der Wind noch heftiger. Die Wände des Schuppens wackelten leicht. Ich fror. Und plötzlich wurde aus meiner Angst Wut: Was wollte dieser Geflügelhändler von mir, und was hatte er sich da einzumischen? Ich kontrollierte ihn doch auch nicht oder bespitzelte seine dicke Frau! Mit welchem Recht drang er bei mir ein, ohne anzuklopfen, und sprach irgendwelche Drohungen aus? Er hatte mit den anderen zusammen etwas Grauenhaftes getan, und jetzt spielte er sich als Richter auf. Immerhin war ich unschuldig. Ich war der einzige Unschuldige …
Der einzige.
Ja, ich war der einzige.
Da wurde mir plötzlich klar, dass diese Worte wie eine Drohung klangen. Denn im Grunde läuft es auf das Gleiche hinaus: ob man als Unschuldiger unter Schuldigen oder als Schuldiger unter Unschuldigen lebte. Jetzt fragte ich mich auch zum ersten Mal, warum an jenem besagten Abend, dem Abend des Ereignisses, alle Männer des Dorfes im Gasthaus Schloss gewesen waren – alle Männer außer mir. Darüber hatte ich vorher nicht nachgedacht. Ich hatte nicht darüber nachgedacht, weil ich in meiner Naivität bis dahin geglaubt hatte, ich hätte eben einfach Glück gehabt, dass ich nicht da gewesen war. So habe ich mir keine weiteren Fragen gestellt. Aber war es nicht unwahrscheinlich, dass sie alle zufällig zur selben Zeit den Entschluss gefasst haben sollten, einen Schoppen Wein oder einen Krug Bier zu trinken? Nein, sie waren alle dort gewesen, weil sie sich verabredet hatten. Und mich hatten sie nicht dazugebeten. Warum nicht?
Wieder zitterte ich. Ich tappe im Dunkeln, sitze hier in dem finsteren Schuppen und weiß keine Antwort. Und plötzlich erinnere ich mich an den Tag meiner Rückkehr, an den Tag, als ich nach meinem endlosen Marsch aus dem Lager zurückkam und zum ersten Mal seit langer Zeit unser Dorf wiedersah.
Die Gesichter der
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