Brodecks Bericht (German Edition)
Vorwand, er müsse für den neuen Lehrer Platz schaffen. Johann Lülli heißt der Mann, der Diodèmes Stelle übernommen hat. Er stammt aus unserer Gegend. Er hat ein verkrüppeltes Bein, aber eine hübsche Frau und drei Kinder, eines davon noch ein Säugling. Lülli ist nicht besonders gebildet, aber dumm ist er auch nicht. Früher hat er Schreibarbeiten im Rathaus erledigt, jetzt lässt er die Schulkinder stockend Buchstaben und Zahlen vorlesen, die er an die Tafel schreibt. Auch er war da, am Abend des Ereignisses. Zwischen den vielen Köpfen habe ich auch seinen wirren Haarschopf und seine breiten Schultern bemerkt, die so eckig sind, dass es aussieht, als hätte er vergessen, den Kleiderbügel aus der Jacke zu nehmen.
Eigentlich brauchte ich Diodèmes Tisch nicht, aber ich wollte etwas von ihm aufbewahren, etwas, das er berührt und benutzt hatte. Der Tisch ist ein bisschen wie Diodème selbst: ohne Firlefanz und überflüssigen Zierrat, einfach zwei ordentlich verleimte Platten aus gewachstem Nussbaumholz auf vier Beinen und eine große Schublade. Die Schublade ist abgeschlossen, und ich habe den Schlüssel nicht. Bisher war ich nicht neugierig genug, sie aufzubrechen und nachzusehen, was darin ist. Wenn ich vorsichtig am Tisch rüttele, kann ich in der Lade nichts klappern hören. Ich glaube, sie ist leer.
9
Ich sitze im Schuppen. Vor mir steht die Schreibmaschine. Es ist kalt, nicht nur meine Finger, auch meine Nase fühlt sich an wie ein Stein. Ich spüre sie nicht mehr.
Wenn ich nach Worten suche und dabei den Blick von der Maschine hebe, sehe ich die Wand vor mir, und dann denke ich, dass ich den Tisch vielleicht nicht an die Wand hätte stellen sollen. Diese Wand erinnert mich ans Lager. Dort habe ich lange auf eine ähnliche Wand geblickt.
Alle, die ins Lager kamen, mussten zuerst in das Loch . So nannten die Wachen ein kleines, aus Stein gemauertes Verlies mit einer Grundfläche von ein Meter fünfzig mal ein Meter fünfzig. Ein Mensch konnte darin weder stehen noch liegen.
Sie trieben uns mit Knüppelschlägen und Gebrüll aus den Waggons und weiter zum Lager. Im Laufschritt drei Kilometer über schlechte Wege, das Geschrei der Männer und das Bellen der Hunde hinter uns. Die Hunde bissen gelegentlich auch zu. Wer hinfiel, wurde auf der Stelle mit Stockhieben totgeschlagen. Wir waren geschwächt, hatten seit sechs Tagen nichts gegessen und fast nichts getrunken. Unsere Körper waren steif, und unsere Beine konnten uns kaum tragen.
Neben mir rannte der Student Moshe Kelmar, der mit mir im selben Waggon gewesen war. Sechs Tage lang waren wir gemeinsam in einem engen Käfig aus Metall, eingeklemmt zwischen den anderen stöhnenden und weinenden Menschen, im Schneckentempo durch eine Landschaft gefahren, von der wir nichts sahen. In diesen sechs Tagen hatten wir uns pausenlos unterhalten, beinahe schon am Ersticken, denn unsere Kehlen wurden immer trockener wie das Stroh gegen Ende August. Es gab keine Luft zum Atmen und keinen Platz. Greise, Mädchen, Männer und Frauen saßen dort, und direkt neben uns lag eine junge Mutter mit ihrem wenige Monate alten Kind. Ein junges Mädchen fast noch und ihr winziges Kind. Ich werde sie mein Lebtag nicht vergessen.
Kelmar sprach Fédorines Sprache, jene uralte Sprache, die sie mir beigebracht hatte. Er hatte viele Bücher gelesen und kannte die Namen vieler Blumen – er kannte sogar den Schluchtenenzian, eine Blume, die nur bei uns wächst. Dabei hatte er immer in der Hauptstadt gelebt, also weit weg von uns und den Bergen. Bis auf unsere Höhe ist er nie gekommen, aber er interessierte sich dafür, wie wir lebten. Er hatte Finger wie eine junge Frau, feines blondes Haar und ein zartes Gesicht. Er trug ein ehemals weißes Hemd aus schönem Leinen mit bestickter Hemdbrust, ein Hemd, wie man es zum Ball oder einem Rendezvous anzieht.
Ich fragte ihn nach Neuigkeiten aus der Hauptstadt, die ich früher, während meines Studiums, gut gekannt hatte. Zu der Zeit überquerten die Leute aus unserer Gegend ohne große Umstände die Grenze, wann immer sie wollten. Obwohl die Hauptstadt zum Land der Fratergekeime gehörte, fühlten wir uns dort immer noch wie zu Hause, weil unsere Gegend mehrere Jahrzehnte lang Teil des Reiches gewesen war. Kelmar erzählte mir von den Cafés, wo sich die Studenten trafen, Glühwein tranken und mit Sesam bestreutes Zimtgebäck aßen, von der Elsi-Promenade am Ufer des schönen Sees, auf den man im Sommer die Mädchen zu Bootsfahrten
Weitere Kostenlose Bücher