Brodecks Bericht (German Edition)
Menschen, denen ich damals begegnet war, sah ich wieder vor mir: zuerst, am Ortseingang, die beiden Glacker-Schwestern, die ältere, die aussieht wie ein Gartenschläfer, und die jüngere, deren Augen ganz verquollen sind, weil sie so fett ist. Dann in der Kelterhausgasse der Schmied Gott mit seinen rotbehaarten Armen; dann Mutter Fülltach vor ihrem Café an der Ecke der Unteralgasse; dann Ketzenwir, der am Biederbrunnen eine kranke Kuh hinter sich herzog; Otto Mielk, der sich, seinen dicken Bauch mit den Händen stützend, unter dem Vordach der Markthalle mit dem Förster Prossa unterhielt und, als er meine geisterhafte Erscheinung erblickte, den Mund aufriss, sodass ihm seine kleine, krumme Zigarre aus dem Mund fiel; dann die Dorfbewohner, die aus ihren Häusern kamen wie Tote aus den Gräbern, mich wortlos umringten und bis zu meinem Haus begleiteten, und vor allem jene anderen, die sich in ihre Häuser zurückzogen und schnell ihre Türen schlossen, als brächte ich Unglück, Hass und Rache mit, schlechte Gefühle, die ich wie kalte Asche auf den Straßen verstreuen würde.
Hätte ich das Talent des Anderen , dann könnte ich diese Gesichter mit Farbe und Pinsel malen, ihre Augen vor allem. Ich habe in ihren Augen damals nichts anderes sehen können als Erstaunen. Aber jetzt weiß ich es besser, denn hinter den Blicken verbarg sich mehr, so wie in den Tümpeln, die sich im Sommer in den Torfmooren auf der großen Lichtung im Trauerprinz-Wald bilden, gefräßige Tierchen lauern, die mit ihren winzigen Mäulern alles zerreißen wollen, was ihnen den beschränkten Lebensraum streitig machen könnte.
Ich kam aus dem Innersten der Erde zurück. Mit viel Glück war ich dem Kazerskwir entkommen, und bei jedem Schritt, den ich tat, kam es mir vor, als wäre ich wiedergeboren.
Aber mein Körper sah aus wie der eines Toten. Und überall, wo ich auf meinem langen Weg vorbeikam, rannten die Kinder schreiend vor mir weg, als hätten sie den Teufel gesehen, während die Männer und Frauen aus ihren Häusern traten, mich umringten und mich berühren wollten.
Manche gaben mir etwas Brot, ein Stück Käse oder eine in der Glut gebackene Kartoffel zu essen, andere bewarfen mich mit Steinen, bespuckten mich oder beschimpften mich, als wäre ich ein Verbrecher. Aber das war nichts im Vergleich zu dem, was ich durchgemacht hatte. Ich wusste, dass der Ort, von dem ich kam, weit weg war, und dabei meinte ich nicht die Entfernung in Kilometern. Ich kam aus einem Land, das in ihrer Vorstellung nicht existierte, einem Land, das keine Landkarte je verzeichnet und kein Geschichtsbuch je erwähnt hatte, einem Land, das innerhalb weniger Monate entstanden war, aber dessen Geschichte die Menschen noch lange beschäftigen würde.
Ich kann nicht erklären, wie ich es schaffen konnte, barfuß so weit zu gehen. Vielleicht einfach nur deshalb, weil ich bereits gestorben war, ohne es zu bemerken. Ja, vielleicht war ich gestorben wie all die anderen im Lager und wusste es nur nicht, weil ich es nicht wahrhaben wollte. Ich hatte die Aufseher der Hölle, der wahren Hölle, hinters Licht geführt. Vielleicht hatten sie mich wieder fortgeschickt, weil in diesen Zeiten ohnehin so viele Menschen Einlass begehrten und die Wächter der Hölle sich sagten, ich würde mit Sicherheit eines Tages wiederkommen. Immer weiter ging ich. Ich ging zu ihr, zu Emélia. Immer wieder sagte ich mir: Ich kehre zu ihr zurück. Am Horizont sah ich ihr Gesicht, ihre Schönheit, ihr Lachen, ihre Haut, ihre Stimme wie Samt und Kieselsteine, ihren singenden, fremdartigen Tonfall – ihre Aussprache war unbeholfen wie ein Kind, das stolpert, sich wieder fängt und laut loslacht. Ich konnte ihren Duft nach grenzenloser Weite, Moos und Sonne schon riechen. Ich sprach mit ihr, sagte ihr, ich kehre jetzt zu dir zurück. Meine Emélia.
Aber nicht alle Menschen, denen ich auf meinem langen Weg begegnete, behandelten mich wie einen streunenden Hund oder einen aussätzigen Bettler. Es gab auch den alten Mann.
Eines Abends kam ich, noch hinter der Grenze, im Land der Fratergekeime , in einen Marktflecken, der merkwürdigerweise verschont geblieben war. Alle Häuser standen noch unbeschadet, die Mauern waren unversehrt, die Dächer nicht abgedeckt und die Bauernhöfe nicht niedergebrannt. Auch die Kirche war heil geblieben und bewachte den kleinen Friedhof, der zu ihren Füßen zwischen sorgfältig bestellten Gemüsegärten und einer Lindenallee lag. Die Läden waren nicht
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