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Brodecks Bericht (German Edition)

Brodecks Bericht (German Edition)

Titel: Brodecks Bericht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philippe Claudel
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ich die Tür, meine Tür, die Tür meines Hauses öffnen wollte, am ganzen Leib, und mein Herz schlug zum Zerspringen. Ich hatte sogar Atemnot und glaubte, ich müsse sterben, kaum dass ich die Schwelle überschritten hätte, sterben an zu viel Glück. Aber da erschien mir plötzlich das Gesicht der Seelenfresserin wieder vor Augen, und mein Glück war dahin. Ich fühlte mich, als hätte man mir eine Handvoll Schnee zwischen Hemd und nackte Haut gestopft. Warum nur dachte ich ausgerechnet in diesem Moment wieder an diese Frau?
    In den letzten Wochen des Krieges wurde das Leben im Lager noch unerträglicher als vorher. Widersprüchliche Gerüchte gingen um. Wenn Neuankömmlinge flüsternd erzählten, bald gehe der Krieg zu Ende, und wir Elendsgestalten, die nur noch kriechen konnten, gehörten zum Lager der Sieger, glomm in den Augen von uns lebenden Toten ein schwaches, seit langem erloschenes Licht wieder auf. Aber sogleich trieben unsere Aufseher uns diese Hoffnung aus. Vielleicht, weil sie beweisen wollten, dass sie immer noch die Herren waren, stürzten sie sich auf den Erstbesten, der vorbeikam, malträtierten ihn mit Stockschlägen, Fußtritten und Kolbenhieben und drückten ihn in den Matsch. Dennoch schlossen wir aus ihrer Nervosität und ihrem besorgten Blick, dass tatsächlich etwas vor sich ging.
    Der Wachtposten, der mein Herrchen war, beachtete mich kaum noch. Vorher hatte er mir wochenlang täglich ein breites ledernes Halsband umgelegt, wie einem Hund, eine geflochtene Leine daran befestigt und mich gut gelaunt durchs ganze Lager spazieren geführt, ich auf allen vieren, er dahinter, selbstgewiss und aufrecht. Jetzt aber sah ich ihn nur noch, wenn er mir etwas zu essen brachte. Er trat vor meine Hundehütte, die mir als Unterschlupf diente, und schöpfte zwei Kellen Suppe in meinen Napf, aber ich spürte genau, dass ihm das Spiel keinen Spaß mehr machte. Sein Gesicht war grau geworden, und zwei tiefe Falten, die ich früher nicht bemerkt hatte, liefen jetzt quer über seine Stirn.
    Ich wusste, dass er vor dem Krieg Buchhalter gewesen war und dass er eine Frau und drei Kinder hatte, zwei Söhne und eine Tochter, aber keinen Hund, dafür eine Katze. Er sah friedfertig aus, sein Mienenspiel war eher schüchtern, er wich den Blicken anderer aus, und er hatte kleine, gepflegte Hände, die er mehrmals täglich sorgfältig wusch, eine militärische Melodie vor sich hin pfeifend. Im Gegensatz zu vielen anderen Aufsehern trank er nicht und ging auch nicht in die Baracke ohne Fenster, wo weibliche Gefangene, die wir nie zu Gesicht bekamen, den Aufsehern gefällig sein mussten. Er war ein durchschnittlicher, blasser, zurückhaltender Mann, der mit tonloser Stimme sprach, der aber zwei Mal, vor meinen Augen, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken, einen Gefangenen, der es versäumt hatte, bei der Begrüßung die Kappe abzunehmen, mit dem Ochsenziemer totgeschlagen hatte. Er hieß Joss Scheidegger. Seit dieser Zeit habe ich oft versucht, den Namen aus meinem Gedächtnis zu streichen, aber man kann seinem Gedächtnis nichts befehlen, man kann es nur ein wenig ablenken.
    Eines Tages entstand ein großes Durcheinander im Lager, es war Lärm zu hören, Befehle wurden geschrien, Wachtposten rannten in alle Richtungen durcheinander, machten sich marschfertig und beluden bereitstehende Wagen mit irgendwelchen Kisten. Ein beißender Geruch überlagerte jetzt den Gestank unserer geschundenen Körper: Die Angst hatte die Seite gewechselt.
    In der allgemeinen Verwirrung schenkten die Wachtposten uns keinerlei Beachtung. Vorher hatten sie uns gequält, jetzt, an diesem Morgen, existierten wir einfach gar nicht mehr für sie.
    Ich lag in der Hütte, neben den warmen Leibern der Doggen, und beobachtete das merkwürdige Drunter und Drüber. Keine Bewegung entging mir, ich hörte jeden Ruf, jeden Befehl. Aber diese Befehle gingen uns nichts mehr an. Dann, als die meisten Posten das Lager bereits verlassen hatten, sah ich Scheidegger in die Baracke neben der Hundehütte gehen, wo das Schreibbüro war. Kurz danach kam er mit einer Ledertasche wieder heraus, in der sich anscheinend Dokumente befanden. Eine Dogge bellte, als sie ihn bemerkte. Scheidegger sah zur Hütte hinüber, blieb stehen, zögerte. Er blickte sich um, stellte fest, dass keiner ihn beobachtete, kam schnell zur Hütte herüber. Hastig kniete er sich neben mich, suchte in seiner Jackentasche, zog einen kleinen, mir gut bekannten Schlüssel heraus, schloss mit

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