Brodecks Bericht (German Edition)
sagte, er sei ja gut unterrichtet und kenne den Raum offenbar bestens, ob er vielleicht selbst zu dieser feinen Gesellschaft gehöre. Da verfinsterte sich seine Miene, und er sagte, ich solle keinen Unsinn reden.
Viktors Akkordeon und sein Gesang jedenfalls sind so etwas wie unser Gedächtnis. An jenem Tag hatte er Johannis Klage so schön gesungen, dass die Frauen zu Tränen gerührt waren und die Männer zumindest rote Augen bekamen. Johannis Klage ist ein Lied von Liebe und Tod, das vor langer Zeit entstanden sein muss. Es erzählt vom Leid eines Mädchens, das liebte und dessen Liebe nicht erwidert wurde; und weil sie den Mann, der ihr Herz schneller schlagen ließ, nie im Arm einer anderen Frau sehen wollte, ging sie an einem Wintertag in der Abenddämmerung in den Staubi und legte sich für immer in dem kalten, reißenden Wasser schlafen.
Wenn de Abend gekommen Johanni schlaft in de Wasser
Als besser sein als de Todt dass allein immer werden
De Hertz is a schotke Freige wo nieman geker
Und hübsche Mädchen kann genug de Küsse kaltenen.
Manchmal kommt Emélia mit uns auf den Markt. Ich fasse sie sanft am Arm und zeige ihr den Weg. Sie lässt sich führen, und ihre Augen sehen Dinge, die nur sie allein sehen kann. An dem Tag, als ich das Gespräch belauscht habe, von dem ich gleich berichten will, saß sie links neben mir, summte ihr Lied und wiegte den Kopf sanft vor und zurück. Zu meiner Rechten aß Poupchette eine Wurst, die ich ihr gekauft hatte. Wir lehnten an der dicksten Säule der Markthalle, wenige Meter vor uns wühlte die alte, halbverrückte und so gut wie obdachlose Roswitha Klugenthal im Müll und suchte nach Gemüse und Schlachtabfällen. Sie fand eine krumme Möhre, untersuchte sie gründlich und begann ein Gespräch mit ihr wie mit einer alten Bekannten. In diesem Augenblick hörte ich Stimmen hinter der Säule. Ich erkannte die Stimmen sofort.
Da waren vier Männer: Emil Dorcha, der Förster, Ludwig Pfimling, der Stallknecht, Bern Vogel, der Klempner, und Caspar Hausorn, Angestellter im Rathaus. Die vier hatten seit dem Morgengrauen einiges getrunken, sie unterhielten sich schon reichlich angeregt, und die Festatmosphäre des Marktes hatte sie noch übermütiger gemacht. Sie sprachen laut, verhaspelten sich, doch ich verstand rasch, von wem die Rede war.
«Habt ihr den gesehen, mit seiner Schnüffelei und seinen Augen, die überall sind?», sagte Dorcha.
«Dieser Hund, sage ich euch, ist schlecht und verdorben», ergänzte Vogel.
«Er tut niemandem etwas Böses», bemerkte Pfimling, «er geht spazieren, schaut sich um, lächelt …»
«Der Wolf im Schafspelz, vergiss das Sprichwort nicht, und außerdem bist du so kurzsichtig und beschränkt, dass du noch nicht einmal dem Teufel seine Bosheit ansehen würdest.»
Das hatte Hausorn in gehässigem Tonfall gesagt. Etwas ruhiger sprach er weiter:
«Bestimmt führt er was im Schilde, er will uns schaden.»
«Was meinst du damit?», fragte Vogel.
«Ich weiß nicht, ich zermartere mir das Hirn, ich weiß es nicht, aber ein Kerl wie er, der heckt doch bestimmt was aus.»
«Er schreibt alles in sein Heft», bemerkte Dorcha, «habt ihr ihn gesehen, eben, bei Wutzens Lämmern?»
«Na sicher, er stand doch ewig davor und schrieb und schrieb und beobachtete sie dabei.»
«Er hat nicht geschrieben», verbesserte Pfimling, «er hat gezeichnet. Hab ich genau gesehen, auch wenn du behauptest, ich sehe nichts, aber das habe ich gesehen. Außerdem war er so beschäftigt, dass man ihm vom Kopf hätte essen können und er hätte nichts gemerkt. Ich hab mich hinter ihn gestellt und zugeguckt.»
«Lämmer zeichnen, was soll das denn?», fragte Dorcha, offenbar an Hausorn gewandt.
«Was weiß denn ich! Glaubst du, ich habe auf alles eine Antwort?»
Dann schwiegen alle, und ich glaubte zunächst, die Unterhaltung sei damit beendet. Aber das war ein Irrtum. Eine Stimme sprach weiter, eine tiefe, ernste Stimme, die ich jetzt keinem der vier mehr zuordnen konnte:
«Hier gibt es nicht viele Lämmer, ich meine bei uns … Vielleicht zeichnet er Symbole, wie in der Bibel, in der Kirche, vielleicht sind das alles nur Symbole, vielleicht will er so zeigen, wer wir sind und was wir früher getan haben – damit er da, wo er herkommt, davon berichten kann …»
Ein kalter Schauder lief mir über den Rücken. Die Stimme gefiel mir nicht, und was sie sagte, noch weniger, obwohl ich nicht wusste, was genau gemeint war.
«Aber dann, falls es so ist, dann darf
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