Brodecks Bericht (German Edition)
fahrigen Bewegungen das Schloss meines Halsbandes auf und ließ den kleinen Schlüssel, mit dem er nichts mehr anzufangen wusste, auf den Boden fallen, als hätte er sich die Finger verbrannt.
«Wer weiß, wer für das alles bezahlen wird …?»
Dies waren die dürftigen, erbärmlichen Worte eines Buchhalters. Scheidegger schaute mir dabei zum ersten Mal in die Augen, vielleicht, weil er eine Antwort von mir erwartete. Seine Stirn war schweißbedeckt, seine Haut noch grauer als üblich. Was versprach er sich von dieser Tat? Vergebung etwa? Von mir? Noch einige Sekunden lang starrte er mich flehend und ängstlich an. Da begann ich zu bellen, stimmte ein langes, trauriges Gebell an, in das die beiden Doggen einfielen. Erschrocken sprang Scheidegger auf und rannte davon.
In weniger als einer Stunde war kein einziger Wachtposten mehr im Lager. Alles war ruhig. Nichts war mehr zu hören, niemand mehr zu sehen. Dann traten nach und nach schüchterne Gestalten aus den Baracken, wagten kaum, sich umzusehen, sprachen kein Wort. Bald standen wir alle, immer noch ungläubig, auf den Wegen, die durch das Lager führten, sahen uns zögernd um, bleich, mit eingefallenen Wangen. Bald setzte sich die Menge in Bewegung, und es war, als wären wir ein schweigender, sonderbarer Prozessionszug. Wir irrten mal hierhin, mal dorthin, ohne festes Ziel, aber langsam dämmerte es uns, dass wir frei waren – Freiheit, das Wort wagten wir nicht auszusprechen.
Das Unglaubliche geschah, als dieser Zug der geschundenen Gestalten, nur noch Haut und Knochen, bei der Baracke der Wachmannschaft und der Befehlshaber ankam. Alle blieben wie angewurzelt stehen. Die Ersten hatten schweigend die Hände gehoben, die anderen waren wie erstarrt. Ja, es war unglaublich: Vor den vielen hundert Gestalten, die nun langsam wieder zu Menschen wurden, stand die Seelenfresserin , ganz allein. Vollkommen allein.
Ich glaube nicht an das Schicksal, und ich glaube nicht mehr an Gott. Ich glaube an gar nichts mehr. Aber ich weiß, dass diese letzte Begegnung zwischen den Gedemütigten, den Erniedrigten, und dieser Frau, der Verkörperung ihres Leids, dass diese Begegnung kein Zufall war.
Warum war sie immer noch da, obwohl alle Wachtposten abgezogen waren? Oder war sie noch einmal zurückgekehrt? Hatte sie etwas vergessen? Als sie sprach, klang ihre Stimme zunächst wie immer, selbstsicher und laut, im Bewusstsein ihrer Macht und ihres angestammten Rechts. Diese herrische Stimme, die, je nachdem, mal den Tod durch den Strang befohlen, mal dem Kind ein Schlaflied vorgesungen hatte.
Ich stand etwas zu weit entfernt und konnte ihre Worte nicht verstehen, aber ich hörte, dass sie sprach, als hätte sich nichts verändert. Wahrscheinlich wusste sie nicht, dass sie allein im Lager war. Man hatte sie im Stich gelassen, aber sie glaubte wohl, dass immer noch Aufseher da wären, die ihre Befehle ausführen und uns totschlagen würden, wenn sie es nur anordnete. Aber sie bekam keine Antwort. Niemand eilte herbei und war ihr zu Diensten. Keiner der Männer, die vor ihr standen, unternahm etwas. Sie sprach weiter, aber jetzt veränderte sich ihre Stimme. Sie wurde leiser, dann wieder lauter, bis sie schrie und dann wieder verstummte.
Heute stelle ich mir ihre Augen vor, die Augen der Seelenfresserin in dem Augenblick, als ihr dämmerte, dass sie die Letzte war, dass sie vielleicht nie mehr herauskommen würde und das Lager auch ihr Grab werden sollte.
Man hat mir später erzählt, sie habe mit den Fäusten auf die Männer, die in der ersten Reihe standen, einhauen wollen. Die Männer wehrten sich nicht, sie wichen ihr nur aus. So geriet sie immer tiefer hinein in die Menge der Elendsgestalten und wusste noch nicht, dass sie nicht mehr herausfinden würde. Denn die Menge verschluckte sie, wie das Meer einen Ertrinkenden in die Tiefe reißt. Kein Schrei, keine Klage war zu hören. Die Seelenfresserin verstummte. Ihr Tod ergab sich wie von selbst. Ich glaube sogar, kann es aber nicht beweisen, dass niemand die Hand gegen sie erhob. Sie starb, ohne dass jemand sie angerührt oder ein Wort zu ihr gesagt hatte. Diese Frau, die so geringschätzig auf die Häftlinge herabgeblickt hatte, starb, ohne dass irgendwer sie auch nur eines Blickes gewürdigt hatte. Ich stelle mir vor, wie sie irgendwann stolperte und stürzte. Ich stelle mir vor, wie sie die Hände ausstreckte und versuchte, sich an denen ringsum hochzuziehen, die um sie herum- und über sie hinweggingen, über ihren
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