Brodecks Bericht (German Edition)
Spiel daraus, das immer mit Küssen und Zärtlichkeiten endete. Deshalb hatte das Kind keinen Namen, als es starb. Es ist ohne Namen gestorben, und das habe ich mir immer vorgeworfen, als ob das irgendwie der Grund für seinen Tod gewesen wäre.»
Schloss verstummte und senkte den Kopf. Er saß vollkommen reglos da, als hätte er das Atmen eingestellt. Ich hatte den Geschmack von Zimt und Nelken im Mund, und mein Magen schmerzte noch immer.
«Manchmal träume ich nachts von ihm, er streckt seine winzigen Händchen nach mir aus und entschwindet dann in die Ferne, als ob eine unsichtbare Kraft ihn fortzöge. Und ich weiß nicht, mit welchem Namen ich ihn rufen kann, um ihn aufzuhalten.»
Schloss blickte mich mit seinen großen Augen an. Flehend und feucht war dieser Blick und machte mir das Atmen schwer. Wahrscheinlich wartete er darauf, dass ich etwas sagte, nur ein paar Worte – aber was? Ich wusste nur zu gut, wie hartnäckig Geister sein können und dass sie manchmal gegenwärtiger sind als die Lebendigen.
«Eines Morgens, beim Aufwachen, habe ich nichts gehört. Gerthe lag nicht mehr im Bett. Sie stand am Fußende der Wiege, sah das Kind an und bewegte sich nicht. Ich rief sie, aber sie antwortete nicht, drehte sich nicht zu mir um. Ich ging zu ihr und trällerte: Stephan, Reichardt … Gerthe sprang auf und stürzte sich auf mich wie ein rasendes Tier, sie wollte mich schlagen, meine Wangen zerkratzen. Da sah ich das Gesicht des Kindes in der Wiege. Seine Augen waren geschlossen, und seine Haut war schiefergrau verfärbt.»
Ich weiß nicht mehr, wie lange ich noch mit Schloss zusammensaß. Ich erinnere mich auch nicht mehr, ob er mir weiter von seinem Kind erzählte oder ob er schweigend mir gegenüber sitzen blieb. Das Feuer im Kamin brannte herunter. Er legte kein Holz mehr nach. Die Flammen erloschen, dann erkaltete auch die restliche Glut. Ich fröstelte. Irgendwann stand ich auf, und Schloss brachte mich zur Tür. Er hat mir lange die Hand gedrückt und sich bedankt, zwei Mal. Dank wofür?
Auf dem Rückweg dröhnte mir der Kopf, es fühlte sich an, als schlüge jemand darin zwei Becken gegeneinander. Ich merkte, dass ich mehrmals Poupchettes Namen vor mich hin sagte: «Poupchette, Poupchette, Poupchette.» Schloss’ toter Sohn ging mir nicht aus dem Kopf. Wie sonderbar ist doch ein Menschenleben. Man wird hineingeworfen und fragt sich oft nach dem Sinn. Vielleicht ist das der Grund, warum manche Menschen, die ein wenig schlauer sind als die anderen, die Tür nur einen Spalt weit öffnen, einen Blick hineinwerfen und, wenn sie sehen, was sich dahinter befindet, dem Wunsch nachgeben, sie schnell wieder zu schließen.
Vielleicht haben sie ja recht.
21
Ich möchte jetzt noch einmal auf den ersten Tag oder vielmehr den ersten Abend zurückkommen. Den Abend, als der Andere in unserem Dorf erschien. Von seiner Begegnung mit dem ältesten der Dörfer-Brüder habe ich schon berichtet, aber ich habe noch nicht erzählt, wie es war, als er wenige Augenblicke später im Gasthaus eintraf. Ich habe mir die Geschichte von drei verschiedenen Personen darstellen lassen: von Schloss selbst, von dem Bäcker Menigue Wirfrau, der ins Gasthaus gegangen war, um ein Bier zu trinken, und von Doris Klattermeier, einem rosigen jungen Mädchen mit farblosem Haar, das gerade in diesem Augenblick vorbeikam. Sowohl auf der Straße als auch im Gasthaus hätte es noch mehr Zeugen geben können, aber die drei haben mir – bis auf eine Kleinigkeit – dieselbe Geschichte erzählt, weshalb ich es nicht für nötig hielt, noch weiter zu forschen.
Nachdem der Andere sich mit dem ältesten Dörfer unterhalten hatte, stieg er vom Pferd und ging zu Fuß weiter. Er führte das Pferd am Zügel, und der Esel folgte ihnen in einigen Schritten Abstand. Vor dem Gasthaus angekommen, band er den Zügel an einen Ring. Anstatt wie alle anderen einfach die Tür zur Stube aufzustoßen und einzutreten, klopfte er dreimal an und wartete. Dieses Benehmen war so ungewöhnlich, dass er lange warten musste, bis ihm jemand die Tür öffnete. «Ich habe gedacht, da sei ein Witzbold draußen oder eine Rotznase», erzählte Schloss. Zuerst geschieht also gar nichts. Keiner öffnet ihm die Tür, und der Andere wartet einfach. Einige Passanten, darunter die kleine Doris, sind bereits stehengeblieben und bestaunen die merkwürdige Erscheinung: das Pferd, den Esel, das Gepäck und den seltsam angezogenen Mann, der lächelnd, mit rundem, gepudertem Gesicht vor
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