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Brodecks Bericht (German Edition)

Brodecks Bericht (German Edition)

Titel: Brodecks Bericht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philippe Claudel
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wenn sie noch da gewesen wäre, wäre vielleicht … vielleicht wäre der Murmelnde noch am Leben, vielleicht hätte ich mich dann lieber selbst umbringen lassen, als zu erlauben, dass man ihn unter meinem Dach ermordet?»
    Ich spürte, wie es in meinem Magen rumorte. Der Glühwein bekam mir nicht. Er wärmte mich nicht, sondern riss an meinen Eingeweiden, als säße in meinem Magen ein kleines Tier, das mit seinen Zähnchen alles anknabberte. Ich sah Schloss an, wie ich ihn noch nie angesehen hatte. Als wäre eine Nebelwand aufgerissen und hätte den Blick auf eine ungeahnte Landschaft dahinter freigegeben. Gleichzeitig fragte ich mich, ob Schloss nicht vielleicht versuchte, mich um den Finger zu wickeln. Wenn etwas schon geschehen ist, kann man es leicht bedauern. Das kostet nichts, und man kann sich das Gedächtnis reinwaschen. Andererseits hatte mir Peiper diese unerhörte Geschichte über die Beichte erzählt! Mit Sicherheit waren sie alle bei ihm in der Kirche gewesen, und Schloss bestimmt nicht als Letzter. Außerdem erinnere ich mich noch deutlich an seine Haltung und an seinen Gesichtsausdruck am Abend des Ereignisses: Er hatte nicht so ausgesehen, als missbilligte er das Verbrechen, das in seinen vier Wänden geschehen war – ganz egal, was er mir jetzt erzählte. Er hatte an jenem Abend nicht so ausgesehen, als wäre er über das, was geschehen war, besonders entsetzt gewesen.
    Ich wusste nicht, was ich glauben sollte. Ich weiß nie, was ich glauben soll. Wahrscheinlich ist das auch so, weil ich im Lager gewesen bin: Die einen sind tot, und die anderen, die, wie ich, lebendig herausgekommen sind, müssen fortan mit einem Makel leben. Jedes Mal, wenn sie einem anderen Menschen in die Augen sehen, fragen sie sich, ob ihr Gegenüber nicht doch den Drang verspürt, zu quälen, zu töten. Was wir auch tun, wir werden immer die Opfer sein. Jeden neuen Tag betrachten wir als lange Prüfung, die es zu bestehen gilt, und den Abend sehen wir mit einer seltsamen Erleichterung kommen. In uns gären Enttäuschung und Ängstlichkeit. Ich glaube, wir sind zum Gedächtnis der zerstörten Menschheit geworden und werden es bleiben bis zu unserem Tod. Wir sind Wunden, die niemals heilen werden.
    «Vielleicht weißt du gar nicht, dass wir ein Kind hatten», fuhr Schloss fort. «Vielleicht hat Fédorine dir damals nichts davon berichtet in ihren Briefen, es war nämlich zu der Zeit, als du nicht hier warst, als du studiert hast. Das Kind hat nur vier Tage und vier Nächte gelebt. Es war ein kleiner Junge, und die Hebamme, die alte Paula Beckenart – sie ruhe in Frieden –, hat gesagt, er sei ein richtiger kleiner Schloss. Am siebten April wurde er geboren. Draußen zwitscherten die Vögel, und die Lärchenknospen wurden dick wie Pflaumen. Als man ihn mir zum ersten Mal in den Arm legte, habe ich Angst gehabt, ich würde ihn fallen lassen. Ich hatte Angst, ich könnte ihn zu fest drücken, mit meinen breiten Händen ersticken oder ihn auf den Boden fallen lassen, wo er zerbrechen würde wie ein rohes Ei. Gerthe machte sich über mich lustig, und der Kleine schrie aus Leibeskräften und strampelte mit Händen und Füßen, aber kaum hatte er Gerthes Brust gefunden, trank er die Milch, saugte, ohne abzusetzen, als ob er sie vollkommen leer trinken wollte. Ich hatte ihm von Hans Douda eine Wiege tischlern lassen, aus einem schönen Nussbaumstamm, den er aufbewahrt hatte, weil er einen Schrank daraus machen wollte; aber ich habe ihm ein paar Goldmünzen auf seine Hobelbank gelegt, und wir wurden uns schnell einig.»
    Schloss hatte breite, schmutzige Fingernägel. Während er mir von seinem Kind erzählte, versuchte er, sie zu säubern, ohne hinzusehen, aber es gelang ihm nicht, er bekam den schwarzen Rand darunter einfach nicht weg.
    «Die Wiege war gerade groß genug für ihn. Mit seinen kleinen Füßen trommelte er kräftig gegen das Fußende, ein hübsches Geräusch. Gerthe wollte ihn Stephan nennen, ich zog Reichardt vor. Eigentlich hatten wir gedacht, wir würden ein Mädchen bekommen, und diesem kleinen Mädchen, das wir nie bekommen sollten, hatten wir schon einen Namen gegeben. Es sollte Lisebeth heißen, weil Lise der Name meiner Mutter und Bethsie der Name von Gerthes Mutter war. Deshalb hatten wir keinen Namen, als die Hebamme uns den neugeborenen Jungen zeigte. In den vier Tagen seines kurzen Lebens stritten wir uns scherzhaft, Gerthe und ich. Ich sagte ‹Reichardt›, und sie antwortete ‹Stephan›. Es wurde ein

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