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Brodecks Bericht (German Edition)

Brodecks Bericht (German Edition)

Titel: Brodecks Bericht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philippe Claudel
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über die Dächer senkte, waren um die dreißig Menschen im Gasthaus versammelt. An jenem Abend hatten wir uns jedoch umsonst herbemüht, denn der Andere war, nachdem er auf sein Zimmer gegangen war, nicht mehr heruntergekommen. Die Gespräche waren lebhaft, es wurde viel getrunken, und Schloss hatte alle Hände voll zu tun, um die Schar der Zecher zu bedienen. Bestimmt sagte er sich, dass die Ankunft des Anderen am Ende auch etwas Gutes habe. Das Geschäft lief so gut wie an Markttagen oder zu Beerdigungen. Ununterbrochen berichtete Menigue Wirfrau von der Ankunft des Anderen , wie er angezogen war und wie sein Pferd und sein Esel ausgesehen hatten, und weil alle Zuhörer ihm ein Glas ausgaben, damit er die Geschichte nochmal erzählte, schmückte er sie immer weiter aus, bis er schließlich nur noch lallte.
    Gelegentlich aber hörten wir Schritte im Stockwerk über uns, und dann verstummte der ganze Saal, und alles hielt den Atem an. Alle sahen hoch zur Zimmerdecke, als könnten wir hindurchsehen. Wir versuchten uns den Gast vorzustellen, was er tat, was in ihm vorging, obwohl wir ihn ja noch nicht einmal zu Gesicht bekommen hatten.
    Einmal ging Schloss hinauf, um zu fragen, ob alles in Ordnung sei. Wir versuchten ihr Gespräch zu belauschen, aber da war nichts zu machen, noch nicht einmal diejenigen, die ins Treppenhaus horchten, hörten etwas. Als Schloss wieder herunterkam, umringten ihn alle:
    «Na, was war los?»
    «Was soll denn los sein?»
    «Was hat er denn gesagt?»
    «Er hat gesagt, er hätte gerne eine Kollation.»
    «Eine was?»
    «Ein leichtes Abendessen, hat er gesagt.»
    «Und was machst du ihm?»
    «Na, was er bestellt hat.»
    Alle waren neugierig zu sehen, was wohl ein solche Kollation sein mochte. Die meisten folgten daher Schloss in die Küche und sahen zu, wie er ein großes Tablett vorbereitete, auf das er drei dicke Scheiben Schinkenspeck, eine Wurst, saure Gurken, ein Schüsselchen Sahne, einen kleinen Laib Graubrot, süßsauer eingelegten Kohl, einen Ziegenkäse sowie ein Glas Wein und einen Krug Bier stellte. Als er zwischen seinen Gästen hindurchging, trug er das Tablett wie für ein religiöses Ritual vor sich, und sie wichen auseinander und verstummten, als trüge man eine Reliquie an ihnen vorbei. Nur Wirfraus Stimme unterbrach das Schweigen; er erzählte immer noch von der Ankunft des Anderen vor dem Gasthaus. Keiner hörte mehr zu, aber in seinem Zustand merkte er das nicht, genauso wenig wie ihm später auffiel, dass er seinen Backtrog und sein Bett verwechselte: Er schlief im Backtrog ein, nachdem er den Teig im Bett geknetet hatte. Tags darauf hatte er einen Kater, und wir bekamen kein Brot.
    Als ich wieder nach Hause kam, wartete Fédorine auf mich.
    «Was ist los, Brodeck?»
    Ich erzählte ihr, was ich in Erfahrung gebracht hatte. Sie hörte gespannt zu und wiegte den Kopf.
    «Das ist nicht gut, das alles …»
    Sie sagte das einfach so, aber ich ärgerte mich und fragte barsch, was sie damit sagen wolle.
    «Wenn die Herde zur Ruhe gekommen ist, soll man sie nicht wieder aufschrecken», antwortete sie.
    Darüber zuckte ich schließlich nur die Achseln, ich war zu gut gelaunt. Erst heute wird mir bewusst, dass ich mich vielleicht als Einziger über die Ankunft des Unbekannten wirklich gefreut habe. Dass er hier war, kam mir vor wie ein Neuanfang, eine Rückkehr ins Leben. Es kam mir vor, als hätte man eine schwere Eisenplatte angehoben, die jahrelang den Eingang zu einem Keller verschlossen hatte, sodass nun frische Luft und Sonnenlicht hineinströmten. Ich wusste nicht, dass die Sonne auch ein Ärgernis sein kann, wenn ihre Strahlen nämlich, die die Welt erleuchten, auch das enthüllen, was im Verborgenen hätte bleiben sollen.
    Die alte Fédorine kennt mich in- und auswendig. Sie baute sich vor mir auf, sah mir in die Augen und streichelte mir mit ihrer zittrigen Hand über die Wange.
    «Ich bin sehr alt, mein kleiner Brodeck, uralt … Bald werde ich nicht mehr da sein. Pass auf dich auf, du bist schon einmal von einem Ort zurückgekehrt, von dem es keine Wiederkehr gibt. Man bekommt keine zweite Chance, niemals. Und du trägst jetzt die Verantwortung für zwei weitere Seelen, denk daran, an die beiden …»
    Ich bin nicht sehr groß, aber in diesem Augenblick fiel mir auf, wie klein Fédorine war. Sie sah aus wie ein Kind mit dem Gesicht einer Greisin, ein gebücktes, verhutzeltes und zerbrechliches Wesen mit zerknitterter, faltiger Haut – ein Lufthauch hätte sie

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