Brodecks Bericht (German Edition)
fortwehen können, wie Staub. Ihre Augen leuchteten unter einem milchigen Schleier, und ihre Lippen bebten. Ich habe sie in den Arm genommen und lange an mich gedrückt. Es war, als hielte ich ein kleines, verlorenes Vögelchen im Arm, wie die schwachen Sperlinge, die gegen Ende des Herbstes mit zerzausten Federn und pochendem Herzchen schicksalsergeben auf Dachkanten und niedrigen Ästen den Frost erwarten, der sie töten wird. Ich küsste Fédorine viele Male, erst auf ihr Haar, dann wie damals, als ich noch ein Kind war, auf die Stirn und die Wangen, und atmete ihren Geruch ein, einen Geruch nach Wachs, Ofen und frischer Wäsche. Dieser Geruch hat mir fast seit Beginn meines Lebens immer ein zufriedenes Lächeln auf die Lippen gezaubert, sogar im Schlaf. Lange hielt ich sie so im Arm, während ich Erinnerungen an mir vorüberziehen sah, die sich zu einem bizarren Mosaik zusammenfügten – und wie groß war mein Bedauern darüber, dass die Zeit vergeht, dass es Augenblicke gibt, die nie wiederkehren werden.
Da, dicht neben mir, stand Fédorine, ich konnte mit ihr sprechen, ihren Duft atmen, ich spürte ihr Herz schlagen, und es war, als ob mein Herz in ihrem Körper schlüge. Wieder musste ich an das Lager denken. Dort hatten wir tagaus, tagein im Bewusstsein unseres Todes gelebt, und wahrscheinlich wurde manch einer verrückt deswegen. Auch wenn der Mensch weiß, dass er einmal sterben wird, kann er nicht in einer vom Tod gezeichneten Welt leben, in einer Welt, in der der Tod alles ist, der einzige Daseinszweck.
Ich bin nichts stand auf dem Schild, das am Hals des Gehenkten baumelte. Wir wussten nur allzu gut, dass wir nichts waren. Ein Nichts, dem Tod geweiht. Ein Sklave und ein Spielball des Todes. Wir warteten, schicksalsergeben. Und seltsamerweise erschreckte es mich damals nicht, dass ich ein Geschöpf des Nichts war, ein Wesen, das im Nichts lebte. Meinen eigenen Tod fürchtete ich nicht, und wenn, dann nur aus einem tierischen Reflex heraus. Aber den Gedanken, dass Emélia und Fédorine sterben würden, konnte ich nicht ertragen. Der Gedanke an den Tod meiner Liebsten, dieser tiefschwarze Gedanke, quälte mich im Lager und hätte mich fast zerstört.
22
Zunächst wurde der Andere in unserem Dorf wie ein König empfangen, was übrigens ein kleines Wunder war, denn die Menschen hier bei uns sind ansonsten nicht besonders offen. Zum Teil muss das an unserer Landschaft liegen, den tiefen Tälern, den hohen Bergen, den dunklen Wäldern und dem extremen Klima mit Regen, Nebel, Frost, Schneestürmen und glühender Hitze. Und der Krieg hat das alles natürlich nicht besser gemacht. Seither sind die Türen und Seelen hier noch fester verschlossen.
Aber nachdem die erste Überraschung über die Ankunft des Anderen verflogen war, nahm er mit dem Zauber, der ihn umgab, selbst die feindseligsten Dorfbewohner für sich ein. Alle, Kinder, Frauen und Alte, wollten ihn sehen, und er begegnete ihnen freundlich, nahm den Hut ab, wenn er die Damen grüßte, und verbeugte sich vor den Herren. Allerdings sprach er nie. Man hätte ihn für stumm halten können, hätten einige von uns ihn nicht am Abend seiner Ankunft sprechen gehört.
Er konnte keinen Meter über die Straßen gehen, ohne dass ihm eine Horde Mädchen und Jungen folgte, und er verteilte kleine Geschenke an sie, die ihnen wie kostbare Schätze erschienen: Bänder, Glaskugeln, goldene und bunte Schnüre und rotes, grünes und gelbes Papier mit wunderschönem Muster. Das alles zog er aus seinen Taschen, als ob er einen schier unerschöpflichen Vorrat davon mit sich herumtrüge und sein ganzes Gepäck nichts anderes enthielte.
Wenn er seine beiden Reittiere in Vater Solzners Stall besuchte, beobachteten die Kinder ihn von der Tür aus, wagten aber nicht einzutreten, und der Andere betrachtete sie auch nicht weiter. Er begrüßte sein Pferd und seinen Esel, er siezte sie! Er streichelte ihnen über den Kopf und den Hals und steckte ihnen Zuckerstücke, die er aus einem dunkelroten Samtbeutel nahm, zwischen die grauen Lippen. Mit großen Augen und offenen Mündern sahen die Dorfjungen dem Schauspiel zu und fragten sich, in welcher Sprache er wohl mit den Tieren sprach.
Tatsächlich unterhielt er sich lieber mit seinem Pferd und seinem Esel als mit uns. Schloss hatte vom Anderen die Anweisung erhalten, jeden Morgen um sechs Uhr an seine Zimmertür zu klopfen, aber nicht einzutreten, sondern ein Tablett vor die Türschwelle zu stellen, auf dem sich immer das
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