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Brodecks Bericht (German Edition)

Brodecks Bericht (German Edition)

Titel: Brodecks Bericht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philippe Claudel
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schwarzes Haar und starrten vor Schmutz. Wir kannten noch nicht einmal ihre Namen, wir wussten nur, dass sie zäh und ausdauernd waren, weil sie lange Entfernungen in kurzer Zeit zurücklegen konnten. Der Vater begrüßte mich.
    «Wer hat euch denn erzählt, dass hier heute ein Fest ist?»
    «Der Wind.»
    «Der Wind?»
    «Der Wind erzählt viel, wenn man seine Sprache versteht.»
    Er sah mich schelmisch an und drehte sich dabei eine Zigarette.
    «Warst du nochmal in S.?»
    «Darf ich nicht, die Straße ist immer noch gesperrt.»
    «Und wer versorgt dich mit neuen Waren? Auch der Wind?»
    «Nein, nicht der Wind, die Nacht. Für den, der die Nacht kennt, ist sie wie ein Zauberumhang. Man muss ihn sich nur umlegen, dann kann man gehen, wohin man will.»
    Er lachte, entblößte dabei die vier verbliebenen Zähne, die ihm aus dem Kiefer ragten, und ging weiter. Währenddessen überwachte Diodème, wie der Zungfrost die letzten Buchstaben pinselte. Er winkte mir zu, aber erst später, kurz vor Beginn der Feier, habe ich ihm schließlich die Frage gestellt, die mir keine Ruhe ließ:
    «War das deine Idee?»
    «Welche Idee?»
    «Die mit dem Spruch?»
    «Orschwir hat mich darum gebeten.»
    «Um was hat er dich gebeten?»
    «Dass ich ein paar Worte finden soll …»
    «Der Spruch ist aber ziemlich ungewöhnlich. Warum hast du das in unserem Dialekt geschrieben?»
    «Orschwir wollte es so.»
    «Warum?»
    «Keine Ahnung.»
    Auch ich verstand nicht sofort, was Orschwir damit bezweckte, aber später dachte ich noch einmal über die Sache nach. Der Andere war uns ein Rätsel. Wir wussten nicht, woher er kam, warum er hier war und auch nicht, ob er uns verstand, wenn wir unseren Dialekt sprachen. Vielleicht wollte Orschwir so herausfinden, ob der Andere uns verstand. Natürlich war das naiv von Orschwir, und natürlich misslang der Versuch, denn als der Andere an jenem Abend auf den Marktplatz kam und den Spruch las, blieb er zwar kurz stehen, ging dann weiter zu den Stufen, aber woher sollten wir wissen, ob er den Spruch verstanden hatte? Er sagte jedenfalls nichts dazu.
    Was Diodème da aufgeschrieben hatte, war ziemlich merkwürdig, auch wenn das vielleicht nicht seine Absicht gewesen war. Die Worte sind mehrdeutig, denn Sprache ist wie ein weiches Gewebe, das man in alle Richtungen dehnen kann.
    Wir sind froh, wenn ein Neuer kommt. Neu, das kann schließlich etwas Gutes, Interessantes, aber auch etwas Gefährliches sein, eine Bedrohung.
    Und wenn man das bedenkt, erscheint dieser Willkommensgruß mit einem Mal sonderbar und beunruhigend. Aber das haben wir damals nicht bemerkt. Mir geht der Satz nicht mehr aus dem Kopf: Er klingt wie eine Warnung, pass bloß auf – er ist wie ein geschliffenes Messer, das in der Sonne aufblitzt.

23
    Am Nachmittag jenes Tages hatte ich Emélia und Poupchette auf eine Wanderung mitgenommen. Wir stiegen bis zur Lutz-Hütte hinauf, eine alte Schäferhütte, die seit zwanzig Jahren nicht mehr benutzt wird. Die Weiden ringsumher sind nach und nach mit Binsen und Hahnenfuß zugewachsen, und das Gras wurde vom Moos zurückgedrängt. Tümpel haben sich gebildet, zunächst nur einfache Pfützen, und es herrscht eine geisterhafte Stimmung an diesem Ort: der Geist einer Wiese, die noch nicht ganz zum Moor geworden ist. Schon drei Berichte habe ich darüber verfasst. Ich will diese Metamorphose verstehen und beschreiben, und daher komme ich jedes Jahr zur gleichen Jahreszeit her, um zu sehen, was sich verändert hat. Die Hütte liegt zwei Stunden Fußweg in westlicher Richtung vom Dorf. Der Pfad, der dorthin führt, ist beinahe zugewachsen, nicht wie früher, als noch jedes Jahr viele Hunderte Stiefel darüber trampelten. Wege können sterben wie Menschen. Sie werden zugeschüttet, Gras wächst darüber, bis sie schließlich ganz verschwunden sind. Nach ein paar Jahren hat man sie vergessen.
    Poupchette saß auf meinen Schultern, plapperte vor sich hin und unterhielt sich mit den Wolken, als könnten die sie verstehen. Sie sagte: «Macht Platz da, zieht eure dicken Bäuche ein und lasst die Sonne am großen Himmel in Frieden!» Von der Bergluft waren Poupchettes Wangen frisch und rosig.
    Ich hielt Emélias Hand. Sie ging zügig, und ihr Blick war mal zu Boden gerichtet, mal in die Ferne zum Horizont, an dem die zerklüfteten Felsvorsprünge der Prinzhorni emporragten. Aber genau konnte ich nicht sagen, wohin sie blickte. Ihre Augen waren wie Schmetterlinge, bewegliche Wunderdinge, die der Wind forttrug

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