Brodecks Bericht (German Edition)
Gleiche befand: ein runder Wecken – bei Wirfrau im Voraus bezahlt –, ein rohes Ei, eine Kanne heißes Wasser und eine große Trinkschale.
«Er wird doch wohl kein heißes Wasser trinken, ohne alles!», sagte Rudolf Scheuling eines Abends. Er trank seit seinem zwölften Lebensjahr immer nur billigen Fusel. Aber der Andere bereitete sich Tee zu, starken Tee, der braune Ränder in den Tassen hinterließ. Auch ich habe diesen Tee gekostet, als er mich einmal in sein Zimmer einlud, mit mir plauderte und mir seine Bücher zeigte. Der Tee hinterließ einen Geschmack nach Leder, Rauch und Schinken auf der Zunge. Noch nie hatte ich so etwas getrunken.
Anfangs hatte Schloss noch Rezepte aus seinem Gedächtnis ausgegraben, die er seinem Gast kochte. Aber der Andere hatte ihm versichert, dass dies nicht nötig sei. Obwohl er einen beachtlichen Leibesumfang hatte und stets leicht gerötete Wangen, aß der Andere fast nichts. Sein Teller war nie ganz leer, immer ließ er die Hälfte übrig. Dafür trank er ein Glas Wasser nach dem anderen, weil er offenbar ständig durstig war. Diese Beobachtung veranlasste Marcus Graz, einen langen, schlaksigen Kerl mit knochentrockenem Humor, zu der Bemerkung, zum Glück pisse der Andere nicht in den Staubi, der wäre sonst sicher schon über die Ufer getreten.
Abends nahm er nur eine Suppe und dazu noch einen leichten Imbiss zu sich, lieber sogar eine Brühe als eine Suppe, und dann nickte er den übrigen Gästen zum Abschied zu und stieg die Treppe hinauf. Sein Fenster war noch bis spät in die Nacht erleuchtet. Manche meinten sogar, das Licht habe oft die ganze Nacht gebrannt. Jedenfalls fragte man sich, was er da wohl tat.
In der ersten Zeit schien es, als schritte er methodisch unsere Straßen ab, um einen Ortsplan oder ein Straßenverzeichnis zu erstellen. Keiner verstand, was er da tat, vielleicht hätte man ihm dazu, wie die Kinder, ständig hinterherlaufen müssen.
Er war angezogen wie eine Figur aus einem Märchen, in dem alte, längst vergessene Wörter vorkommen. Er hatte einen watschelnden Gang, bei dem er die Füße leicht nach außen stellte, er stützte sich mit der linken Hand auf einen schönen Gehstock mit Elfenbeinknauf und hielt in der rechten das kleine schwarze Notizbuch.
Manchmal ging er mit dem Pferd oder mit dem Esel spazieren, tätschelte dem Tier die Seite und führte es am Zügel zum Ufer des Staubi etwas oberhalb der Baptisterbrücke, damit es dort frisches, saftiges Gras weiden konnte. Dann setzte er sich mit seinem dicken Hinterteil ins Gras, blieb reglos sitzen und beobachtete den klaren Strom und die kleinen Wirbel darin, als könnte er dort die Lösung eines Rätsels finden. Die Kinder hielten sich in gebührendem Abstand auf der Uferböschung. Sie respektierten sein Schweigen, und keines warf auch nur ein Kieselsteinchen ins Wasser.
Vier Wochen nach der Ankunft des Anderen in unserem Dorf geschah etwas. Ich glaube, dass die Idee vom Bürgermeister stammte, bin mir aber nicht sicher. Ich habe ihn nie danach gefragt, weil es ja auch nichts zur Sache tut. Wichtig hingegen ist, was sich am Abend des 10. Juni zugetragen hat.
Zu diesem Zeitpunkt hatte auch noch der Letzte begriffen, dass der Andere nicht auf der Durchreise war, sondern plante, ein bisschen länger zu bleiben. Am 10. Juni wurde bekannt, dass das Dorf, mit dem Bürgermeister vorneweg, den Neuankömmling feierlich willkommen heißen würde. Es sollte eine Rede, Musik und etwas Gutes zu essen geben, ein richtiges kleines Volksfest.
Seit Tagesanbruch hatte der Zungfrost damit zu tun, in der Nähe der Markthalle eine kleine Bühne aufzubauen, die dann allerdings eher an ein Schafott erinnerte. Noch bevor die Sonne sich am dunklen Horizont zeigte, hatten die lauten Hammerschläge und die kreischenden Sägen einige Gaffer aus dem Bett gelockt. Um acht Uhr wusste das ganze Dorf Bescheid. Um zehn Uhr war mehr Volk auf den Straßen als an einem Markttag. Nachmittags schrieb der Zungfrost den Willkommensspruch in wackeligen großen Buchstaben auf ein Band aus Papier, das über der Bühne aufgespannt war: Wir sind froh, wenn ein Neuer kommt . Das hatte Diodème sich ausgedacht. Zwei Hausierer nutzten die Gunst der Stunde und boten geweihte Medaillons, Rattenvernichtungspulver, Messer, Nähgarn, Almanache, Saatgut, Bilder und Filzhüte feil. Ich kannte die beiden, weil ich ihnen auf meinen Wanderungen über die Pässe und durch die Wälder oft begegnet war. Sie waren Vater und Sohn, beide hatten
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